In Paris, nahe dem Zentrum der Stadt, erhebt sich eine mächtige Kirche, die den Märtyrern Gervasius und Protasius geweiht ist und auch andernorts finden diese Heiligen bis heute Verehrung. Wenn wir aber nach historischen Fakten über ihr Leben suchen, stoßen wir bald an Grenzen, denn so richtig ans Licht der Öffentlichkeit kommen sie erst, als Ambrosius von Mailand am 17. Juni 386 ihre Gebeine findet.
Gervasius und Protasius waren Zwillingsbrüder und Kinder des heiligen Märtyrerehepaares Vitalis und Valeria. Sie stammten aus Mailand. Dort haben sie sich dem heiligen Nazarius angeschlossen, einem frühen Glaubensboten. Dessen Mutter war die heilige Felicitas, die selbst vom Apostel Petrus in Rom getauft worden war. Nazarius soll die Taufe von Linus, dem ersten Nachfolger Petri im Papstamt, empfangen haben.
Dieser Nazarius, der später selbst als Märtyrer gestorben ist, kam von Rom nach Mailand und ist später nach Trier weitergezogen, um den Glauben an Jesus Christus zu verkünden. Gervasius und Protasius verteilten ihr Vermögen an die Armen und schlossen sich dem Glaubensboten an.
Als die Römer gegen germanische Stämme in den Krieg zogen, sollten das Volk und die Soldaten den Göttern opfern. Als die Christen dieses Opfer verweigerten, sah man das Kriegsglück gefährdet. Nach der Legenda Aurea trat Protasius hervor und rechtfertigte das Verhalten der Christen. Ohne Furcht trat er dem römischen Beamten entgegen. Nicht die Christen hätten Furcht vor den Todesdrohungen, sondern vielmehr seien die Heiden von Furcht ergriffen:
„Ihr fürchtet uns, da ihr glaubt, es geschehe euch ein Leid, wenn wir euren Göttern nicht opfern. Wenn ihr nicht fürchten würdet, dass euch ein Unheil von uns droht, würdet ihr uns nicht zwingen, euren Göttern zu opfern.“
Ist es nicht zu allen Zeiten diese Furcht, dass Abweichler die Macht der Götter schwächen würden, die zu blutigen Verfolgungen führt? Wenn aber die Macht der Götter von der Kraft der Menschen abhängig gemacht wird, so wird dadurch umso mehr ihre Machtlosigkeit offenbar. Protasius sagt mit Recht zu dem heidnischen Beamten:
„Ich zürne nicht wieder dich, Fürst, sondern ich sehe, wie du so blind bist in deinem Herzen, und du tust mir leid, weil du nicht weißt, was du tust. Doch ich bitte dich, vollbringe an mir, was du angefangen hast, damit mir heute zusammen mit meinem Bruder die Gnade des Herrn zu teil werde.“
Die heiligen Märtyrer wissen um die Macht Gottes, die stärker ist als menschliche Gewalt. Sie folgen ihrem Heiland, der von Menschenhand gemartert den Tod erlitt und der als erster vorangegangen ist zum Leben der ewigen Seligkeit. Unter Kaiser Nero um das Jahr 60 erlitten Gervasius und Protasius, wie zuvor schon ihre Eltern Vitalis und Valeria, das Martyrium.
Soweit der Versuch einer kurzen Lebensbeschreibung. Verwirrung kommt aber auf, wenn man aus späteren Berichten vernimmt, dass Gervasius und Protasius ebenso wie Nazarius erst um das Jahr 300 unter Kaiser Diokletian das Martyrium erlitten haben sollen. Gestützt werden diese Berichte noch dadurch, dass ihr Martyrium bei der Suche nach ihren Gebeinen im Jahr 386 noch in lebhafter Erinnerung beim christlichen Volk gewesen sein soll.
Wie dem auch sei, als Ambrosius auf Grund einer Vision nach den Leibern der Heiligen suchen ließ, fand man sie „obgleich mehr denn dreihundert Jahre verflossen waren, noch so frisch, als ob sie zur selbigen Stunde erst in den Sarg gelegt worden wären, und ein wunderbar edler Geruch verbreitete sich aus ihrem Grab“ (Legenda Aurea). Ambrosius selbst schreibt darüber:
„Es wurden zwei Männer von wunderbarer Größe gefunden gemäß dem Kraftmaß früherer Zeiten. Alle Körperteile waren noch vollständig erhalten; dazu viel Blut. Da hielten wir Nachtwache bis an den Morgen und legten vielen die Hände auf. Am folgenden Tag überführten wir die Gebeine in die neue Kirche, und als wir sie überführten, wurde ein Blinder geheilt.“
Die Auffindung und Übertragung der Gebeine der beiden Märtyrer war ein Triumph nicht nur für den katholischen Glauben, sondern auch für Ambrosius, der damals in seiner Bischofsstadt arg bedrängt wurde. Die Arianer, eine christliche Glaubensgemeinschaft, die damals im Kaiserhaus einen starken Rückhalt hatte, beanspruchte die christlichen Kirchen für sich und Ambrosius hatte sie nur mit großer Mühe verteidigen können. Nun konnte Ambrosius dem Volk zeigen, welche christliche Glaubensrichtung die richtige ist.
Für Mailand war es ein großes Ereignis, dass dort nun die Gebeine eigener Märtyrer verehrt werden konnten. Mit der Übertragung ihrer Gebeine in die von Athanasius neu errichtete Märtyrerbasilika wurde diese Verehrung in geordnete kirchliche Bahnen gelenkt. Mit Märtyrern aus der Zeit der ersten Christenverfolgung unter Kaiser Nero konnte man zudem auf eine ebenso lange Tradition des Christentums in Mailand hinweisen, wie sie die Stadt Rom für sich beanspruchte.
Hören wir zum Abschluss den Bericht des heiligen Augustinus über diese Ereignisse, der sich damals in Mailand aufhielt und später in seinen „Confessiones“ davon schreibt:
„Damals hast du demselben Bischof (Ambrosius) in einer Vision kundgetan, an welcher Stätte die Leiber der Blutzeugen Protasius und Gervasius verborgen sind. So lange Jahre hattest Du sie unversehrt aufbewahrt in einer Schatzkammer, die dein Geheimnis war, um sie daraus zur rechten Zeit hervorzuholen, damit dem Wüten eines Weibes, das aber Kaiserin war, Einhalt geschähe. Denn als sie nach ihrer Entdeckung und Ausgrabung mit gebührenden Ehren in die Basilika des Ambrosius übertragen wurden, geschahen an Menschen, die von unreinen Geistern gequält waren, Heilungen, die von diesen Dämonen selbst zugegeben wurden, aber auch ein in der ganzen Stadt bekannter Bürger, seit Jahren blind, der die Ursache des stürmischen Jubels im Volk erfragt hatte, sprang auf und bat seine Führer, ihn dorthin zu bringen. Das geschah, und er setzte es durch, dass er mit einem Schweißtuch den heiligen Schatz berühren durfte, den Leib deiner Heiligen, deren Tod so kostbar ist in deinen Augen. So tat er, brachte das Tuch an seine Augen, und alsbald wurden sie sehend. Das sprach sich weit herum, das erweckte dir feurige, strahlende Lobgesänge, das brachte die Seele jenes feindseligen Weibes zwar nicht zum Heil des Glaubens, aber es bändigte doch ihre Wut, uns zu verfolgen. Dank sei Dir, mein Gott! Woher und wohin nun hast du mein Erinnern geleitet, dass ich auch dieses dir bekenne, so Großes, das ich doch vergessen und achtlos übergangen hatte?“