Alles hat seine Zeit (Koh 3)

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. (Koh 3,1)

Der Weisheitslehrer Kohelet beschäftigt sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Dabei nimmt er althergebrachte Weisheiten kritisch in den Blick, beispielsweise diejenige, dass es frommen Menschen immer gut geht. Die Alten lehren: befolge die Gebote und du wirst ein langes und glückliches Leben haben. Die Beobachtung zeigt uns aber, dass das nicht stimmt. Auch fromme Menschen werden von Schicksalsschlägen getroffen. Waren diese Frommen dann vielleicht nicht fromm genug? Oder müssen wir vielmehr nach neuen Antworten suchen?

Auch die Aussage, dass Reichtum und Bildung die Garantie für ein glückliches Leben sind, hinterfragt Kohelet kritisch. Reichtum ist vergänglich und selbst wer sich alles leisten kann ist noch lange kein glücklicher Mensch. Auch die Beschäftigung mit Bildung und Wissen bereitet oft mehr Kopfzerbrechen, als dass sie dem Menschen Glück und Freude bringt. Wozu dann das alles? Ist letztlich alles sinnlos, “Windhauch”, wie es Kohelet nennt?

Es gibt viel Windhauch in der Welt, aber es gibt auch etwas, das bleibt. Das Leben ist nicht sinnlos, aber die Menschen beschäftigen sich oft mit den falschen Dingen. Es gilt das zu erkennen, was wirklich wichtig ist. Dann wird das Leben ein erfülltes Leben, weil Gott uns aus seiner Fülle das schenken will, was uns zu einem erfüllten Leben fehlt. Nicht durch unablässige Mühe, sondern durch die Offenheit für den schenkenden Gott finden wir zu einem erfüllten Leben.

Wie ist das aber mit den leidvollen und frohen Momenten im Leben? Kohelet gibt uns darauf in diesem wundervollen Gedicht eine Antwort: alles hat seine Zeit, Leid und Freude wechseln einander ab im Leben. Wir können diesem Wechsel des Geschicks nicht entkommen. Fromme und weniger fromme Menschen sind in gleicher Weise an dieses Auf und Ab gebunden. Wir dürfen unser Geschick nicht als Strafe oder Belohnung sehen, sondern es sind ganz natürliche Abläufe, denen wir nicht entkommen können.

Dennoch sind wir nicht blind dem Schicksal ausgeliefert. Unsere Anstrengungen und auch unsere Frömmigkeit haben einen Sinn und zahlen sich aus, aber sie sind eben nicht die einzigen Kräfte, die unser Leben bestimmen. Kohelet möchte uns weg bringen von einem Schwarz-Weiß-Denken und uns die Augen öffnen für die Komplexität des Lebens. Es gibt keine einfachen Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Wir müssen manche Fragen als solche stehen lassen. Aber wir können dennoch ein erfülltes Leben haben, auch wenn wir nicht alle Antworten kennen.

Für alles gibt es eine bestimmte Zeit:

Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben,

eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen der Pflanzen,

eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen,

eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen,

eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen,

eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz;

eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln,

eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,

eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren,

eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen,

eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen,

eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden,

eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen,

eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden. (Koh 3,2-8)

Wichtige und nicht so wichtige Dinge stehen hier relativ unvermittelt nebeneinander. Neben den großen Ereignissen im Leben des Menschen wie Geburt und Tod oder so gravierenden Einschnitten in das Leben wie Krieg und Frieden steht das Steinewerfen und Steinesammeln. Dann gibt es alltägliche oder immer wiederkehrende Ereignisse wie das Pflanzen oder das Umarmen, Klagen und Tanzen. Bei manchen Dingen wissen wir von selbst, dass sie nicht ewig dauern können. Wer gepflanzt hat, muss auf das Wachsen der Pflanzen warten, Menschen, die einander umarmen, müssen diese Umarmung irgendwann wieder lösen.

Bei manchen Dingen fällt es uns schon schwerer, den Wechsel geschehen zu lassen, auch wenn wir genau wissen, dass sie vergänglich sind. Freude würden wir gerne festhalten, aber sie vergeht irgendwann, aber auch das Leid dauert nicht ewig, auch wenn wir mitten im Leid oft nicht daran glauben können, dass es vorüber geht. Aber auch das Leid wird ein Ende haben, ebenso wie der Hass der Liebe weichen kann.

Alles geschieht und oftmals können wir nichts dagegen tun. Manche Menschen haben das Glück, in einer wohlhabenden Gesellschaft zu leben, andere müssen ein Leben in Armut führen. Aber auch das kann sich ändern. Die Corona-Krise hat uns gezeigt, dass das quirlige Leben unserer mobilen Gesellschaft von einen Tag auf den anderen nahezu zum Stillstand kommen kann. Alles hat seine Zeit und momentan scheint die rasende Zeit etwas gebremst worden zu sein.

Ich habe als Bild zu dem Gedicht von Kohelet einen Tropfstein gewählt. So ein Tropfstein wächst in zehn Jahren etwa einen Millimeter. Nach den Maßstäben einer schnelllebigen Zeit könnten wir sagen, er wächst überhaupt nicht, aber wenn wir eine Tropfsteinhöhle besuchen, dann sehen wir, was für imposante Gebilde durch dieses langsame Wachstum im Laufe der Jahrhunderte entstehen können. Das kurze und begrenzte menschliche Leben kann nicht der Maßstab für alles sein. Früher hielten die Menschen sich für den Mittelpunkt der Welt. Heute wissen wir, dass die Zeit menschlichen Lebens nur ein Augenblick in den Jahrmillionen der Weltgeschichte ist, auf einem kleinen Planten irgendwo in den Weiten des Universums.

Dennoch halten wir uns weiterhin für groß und allem anderen überlegen, jagen eitlen Dingen voll Windhauch nach und zerstören mit unserer Gier den Planeten, den Gott uns geschenkt hat und der genug Ressourcen für alle bieten würde, wenn wir nur bereit wären, uns auf das zu beschränken, was wir wirklich nötig haben. Einzelne Wassertropfen können in Jahrhunderten imposante Hallen aus Tropfstein formen. Vielleicht kann dieses Bild uns helfen, uns neu auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist und so zu einem wirklich glücklichen und erfüllten Leben zu finden, ein Leben, das nicht seinen Vorteil dadurch gewinnt, dass es auf Kosten anderer gelebt wird, sondern das sich selbst als Geschenk ansieht und auch für andere ein Geschenk sein will.

Wasser in der Wüste

Mose ließ Israel vom Roten Meer aufbrechen und sie zogen zur Wüste Schur weiter. Drei Tage waren sie in der Wüste unterwegs und fanden kein Wasser. (Ex 15,22)

Israel ist aus Ägypten ausgezogen, am Schilfmeer hat Gott sein Volk vor den Ägyptern gerettet. Der Durchzug durch das Meer und das Siegeslied des Mose bilden eine Zäsur. Ägypten ist fortan Geschichte. Nun fängt etwas Neues an. Israel zieht in sein eigenes Land. Doch bis das Volk dort ankommt, ist es ein weiter Weg. Der gesamte verbleibende Umfang der Fünf Bücher Mose ist diesem Weg gewidmet. Dabei nehmen die Ereignisse auf diesem Weg nur einen geringen Teil ein. Der größte Teil besteht aus dem Bundesschluss am Sinai zwischen Gott und Israel und der damit in Verbindung stehenden Gesetzessammlung, die Gott Israel durch Mose vermittelt.

Als sie nach Mara kamen, konnten sie das Wasser von Mara nicht trinken, weil es bitter war. Deshalb nannte man es Mara. Da murrte das Volk gegen Mose und sagte: Was sollen wir trinken? (Ex 15,23-24)

Wasser ist das, was der Mensch am nötigsten zum Leben braucht. Maximal drei Tage kann der Mensch ohne Wasser überleben. Diese Grenze ist nun erreicht. Bereits nach drei Tagen scheint der so triumphal begonnene Auszug aus Ägypten ein jähes Ende zu nehmen, weil das Volk in der Wüste zu verdursten droht. Kein Wunder, dass die Israeliten murren. Ein Leben als Sklaven wäre dem Tod in der Wüste vorzuziehen gewesen. Sie finden zwar Wasser, aber dieses Wasser ist ungenießbar. Doch Gott findet eine Lösung. Er kann das bittere Wasser süß und genießbar machen. Gott sorgt für sein Volk. Auch in der kargen Wüste sichert er das Überleben. Mehr noch, nach kurzer Zeit finden sie eine Oase, in der es Wasser im Überfluss gibt.

Er schrie zum Herrn und der Herr zeigte ihm ein Stück Holz. Als er es ins Wasser warf, wurde das Wasser süß. Dort gab er dem Volk Gesetz und Rechtsentscheide und dort stellte er es auf die Probe. Er sagte: Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und tust, was in seinen Augen recht ist, wenn du seinen Geboten gehorchst und auf alle seine Gesetze achtest, werde ich dir keine der Krankheiten schicken, die ich den Ägyptern geschickt habe. Denn ich bin der Herr, dein Arzt. Dann kamen sie nach Elim. Dort gab es zwölf Quellen und siebzig Palmen; dort am Wasser schlugen sie ihr Lager auf. (Ex 15,25-27)

Gott ist der Arzt seines Volkes. Sie brauchen keine Wunderheiler und Scharlatane. Gott kümmert sich um sein Volk. Er versteht es, Krankheiten zu heilen. Das wird besonders in Jesus sichtbar. Er zeigt, wie Gott sein Volk heilen möchte. Wir aber sind wie Israel in der Wüste und zweifeln an Gottes Wundern. So hindern wir Gott daran, dass er sich als Arzt und Helfer zeigen kann. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die das Vertrauen in Gott haben, das bereits Mose das Volk gelehrt hat und das Jesus uns gezeigt hat. Die Oase von Elim, wo Gott dem dürstenden Volk Wasser im Überfluss schenkt, kann ein Bild sein, das uns in unserem Leben immer wieder daran glauben lässt, dass die Hoffnung auf Gott nicht vergebens ist.

Das Wort ist dir nahe

Denn dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. Es ist nicht im Himmel, sodass du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, sodass du sagen müsstest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können? Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten. (Dtn 30,11-14)

Gott hat dem Volk Israel seine Gebote gegeben. Neben dem Herzstück, den Zehn Geboten, sind dies etliche weitere Vorschriften, die das Zusammenleben des Volkes mit seinem Gott und untereinander regeln. Gott hat mit Israel einen Bund geschlossen der besagt, dass Israel in Frieden in seinem Land leben wird, wenn es diese Gebote befolgt.

An erster Stelle steht das Gebot der Einzigkeit Gottes. Israel soll seinen Gott als den einzigen Herrn erkennen und anerkennen und keine fremden Götter verehren. In den einzelnen Vorschriften über den Kult wird ausgeführt, wie die Verehrung Gottes erfolgen soll. Die weiteren Gebote regeln das Zusammenleben der Menschen untereinander. Es geht um den Zusammenhalt der Familie und um die Regeln für ein friedliches Miteinander der Menschen.

Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die Gebote nicht schwer zu befolgen sind, sie sind nicht etwas Unnatürliches, das dem Menschen fremd wäre oder über seine Kraft hinausginge. Sie zu befolgen ist nichts Unmögliches, wie in den Himmel hinaufzusteigen oder über das Meer zu fahren (Israel war kein Seefahrer-Volk. Nur von Salomo wird berichtet, dass er eine Flotte hatte. Das Meer hatte für Israel stets etwas Bedrohliches, galt geradezu als Überbleibsel des Ur-Chaos, und man konnte sich nicht vorstellen, dieses zu bezwingen).

Die Gebote sind dem Menschen nicht fremd, sondern sie sind etwas Naheliegendes, geradezu Selbstverständliches. Wer darüber nachdenkt, wie eine gerechtes Zusammenleben unter Menschen möglich ist, wird zu dem Schluss kommen, dass das Gesetz des Alten Testamens eine der besten Lösungen dafür ist. Zumindest wenn wir dessen Kern, die Zehn Gebote, betrachten. Einige Vorschriften sind in der Tat nicht mehr zeitgemäß, gerade was die Überordnung des Mannes über die Frau betrifft oder die Anwendung der Todesstrafe.

Einzelne Gesetze ändern sich im Laufe der Zeit, aber ihr Kern bleibt gleich. Es ist die Frage danach, wie ein gerechtes Zusammenleben unter Menschen möglich ist. Wie kann die Familie als Keimzelle der Gesellschaft geschützt werden, und sichergestellt werden, dass Menschen auch im Alter und in Krankheit noch menschenwürdig leben können? Wie kann der Besitz des einzelnen vor dem geschützt werden, der sich auf Kosten anderer bereichern will? Wie können Menschen geschützt werden vor Mord oder Verleumdung? Warum ist es besser, der Wahrheit und Gerechtigkeit den Vorzug zu geben vor Lüge und Ausbeutung?

Jeder Mensch weiß eigentlich, was wahr und gerecht ist. Wir sprechen hier vom Gewissen, das jeder Mensch hat. Aber obwohl er es weiß, tut der Mensch nicht immer das, was wahr und gerecht ist, vor allem deshalb, weil Lüge und Ungerechtigkeit mitunter einen größeren materiellen Vorteil bieten. Hier ist es dann Aufgabe von Gesetzen, durch Androhung von Strafen dafür zu sorgen, dass der mögliche Vorteil durch eine mögliche Strafe soweit unattraktiv wird, dass es dann doch besser erscheint, sich an die Regeln zu halten.

Der Staat kann jedoch mit dem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht in allen Fällen für die Einhaltung der Ordnung der Gesetze sorgen. Gerade wenn sich die Verstöße häufen, muss er sich auf die Ahndung schwerwiegender Vergehen beschränken. Es war aber schon immer so, dass auch die Gesellschaft selbst für die Einhaltung der Gesetze sorgt, sei es, dass durch die Aufmerksamkeit anderer kleinere Diebstähle und Betrügereien verhindert werden, sei es, dass mutige Bürger das Wort ergreifen, wenn andere durch Rüpeleien bedroht werden.

Natürlich geht es hier nicht darum, Selbstjustiz zu üben, für die Ahndung von Straftaten ist allein der Staat zuständig. Ich meine aber, dass das friedliche Miteinander von Menschen im Kleinen auch durch das mutige Aufstehen von Menschen vor Ort gestaltet werden kann. Es geht darum, auf breiter Basis wieder ein Gespür für das eigene Gewissen zu wecken. Viele Menschen testen immer wieder aus, wie weit sie gehen können und wenn sie keinen Widerstand spüren, werden sie immer mehr ihren eigenen Vorteil suchen und immer weniger auf andere Rücksicht nehmen.

Viele nehmen in unserer Gesellschaft eine wachsende Ungerechtigkeit wahr, eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm. Immer weniger Menschen besitzen einen immer größeren Teil des Vermögens. Zudem steigen Mieten und Lebenshaltungskosten, so dass für viele Menschen immer weniger zum Leben bleibt. Immer mehr rutschen in Langzeitarbeitslosigkeit und fühlen sich am Rand der Gesellschaft. Junge Menschen sehen in der bestehenden Ordnung keine Perspektive mehr. Es kommen immer mehr Flüchtlinge in unser Land, die trotz materieller Hilfe zu wenig Hilfe bei der Eingliederung in unsere Gesellschaft bekommen. Es genügt nicht, hier auf staatliche Aktivitäten zu warten. Natürlich muss der Staat hier im Großen verschiedene Maßnahmen in die Wege leiten. Es kommt aber auch auf das kleine Engagement der Menschen vor Ort an. Was sagt mir mein Gewissen, wie ich in meiner Umgebung der wachsenden Ungerechtigkeit entgegensteuern kann? Welchen kleinen Beitrag kann ich dazu leisten? Hier ist Kreativität gefragt und der Mut, auch einmal aus den gewohnten Bahnen auszubrechen. Oft reicht nur eine Kleinigkeit. Wir müssen nicht die Sterne vom Himmel holen oder einen Schatz vom anderen Ufer des Meeres. Der Stern ist in uns, die Schätze vor unserer Tür, wir müssen sie nur entdecken und dann mit anderen teilen.

Die Bücher der Chronik

Die Bücher der Chronik geben einen Überblick über die Geschichte Israels von Adam bis zum Ende des babylonischen Exils. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Regentschaft der Könige David und Salomo, die für die Juden bis heute den Höhepunkt der Geschichte Israels markieren. Den Juden der nachexilischen Zeit soll somit ein Beispiel vor Augen geführt werden, das sie stets anstreben sollen. Eine zentrale Stellung nimmt dabei auch der Tempel in Jerusalem ein, dessen Standort bereits von David gewählt wurde, der dann von Salomo glänzend errichtet wurde und der nach der Zerstörung durch die Babylonier nach dem Exil wiederaufgebaut wurde und das Zentrum der Verehrung des Gottes Israels bildet.

Die beiden Bücher der Chronik waren ursprünglich ein einziges Buch, das in der hebräischen Bibel den Titel “Ereignisse der Tage” trägt, was Hieronymus in der Vulgata mit “Verba dierum” wiedergegeben hat. Die Septuaginta nennt das Buch “Paralipomena”, was mit “Übergangenes” übersetzt werden kann und darauf hinweist, dass trotz der inhaltlichen Nähe zu den Büchern Samuel und Könige hier auch Ereignisse genannt werden, die in diesen Büchern nicht vorkommen.

Die Geschichte Israels ist eine Geschichte mit dem Gott Israels. Das Geschick Israels ist aufs Engste damit verwoben, wie sich Israel seinem Gott gegenüber verhält. Gott hat dem Volk das Land gegeben, er ist im Tempel mitten unter dem Volk anwesend. Wenn das Volk und seine Könige und Anführer Gott die Ehre geben, wird das Land blühen und wachsen, wie es zur Zeit der Könige David und Salomo der Fall gewesen ist. Wenn aber das Volk und seine Könige und Anführer von Gottes Geboten abweichen, wird das Land von Feinden heimgesucht und im schlimmsten Fall vernichtet, wie bei der Eroberung durch die Babylonier.

Doch ist Geschichte wirklich so einfach? Moderne archäologische Untersuchungen haben festgestellt, dass David und Salomo wohl nicht so bedeutend waren, wie rückblickend in der Bibel geschildert und dass die von den biblischen Geschichtsbüchern verachteten Könige des Nordreichs vermutlich eine größere Blütezeit herbeigeführt haben, als man durch das Lesen der Bibel vermuten würde. Somit wird deutlich, dass die Geschichtsbücher der Bibel neben der Vermittlung historischer Informationen vor allem eine religiöse Komponente haben, die dem historischen Interesse übergeordnet ist. Sie wollen nicht Geschichte um der Geschichte willen vermitteln, sondern sie sehen die Geschichte stets als Spiegel der Beziehung des Volkes mit seinem Gott.

Die letzten Sätze des Buches wollen dem Leser Mut machen:

So spricht Kyrus, der König von Persien: Der Herr, der Gott des Himmels, hat mir alle Reiche der Erde verliehen. Er selbst hat mir aufgetragen, ihm in Jerusalem in Juda ein Haus zu bauen. Jeder unter euch, der zu seinem Volk gehört – der Herr, sein Gott, sei mit ihm -, der soll hinaufziehen. (2Chr 36,23)

Nach dem totalen Versagen der Könige Israels, nach der Katastrophe des Untergangs und der Zerstörung des Tempels, gibt Gott die Chance zu einem Neuanfang. Gott ruft durch den Perserkönig Kyros das Volk wieder heim in sein Land. Sie haben die Chance, es besser zu machen als ihre Väter, sie haben die Chance, an die glorreichen Zeiten der Könige David und Salomo wieder anzuknüpfen.

Die kirchliche Leseordnung präsentiert uns diesen Text am 4. Fastensonntag, dem Sonntag Laetare, an dem mitten in der Österlichen Bußzeit schon ein Schimmer des Osterlichtes durchscheint. Die Österliche Bußzeit ist ja auch so eine Zeit des Neuanfangs, in der wir uns besinnen, über die Zeit hinweg eingeschleifte Fehler entdecken und diese nun vermeiden wollen. Hier ist es auch hilfreich, sich gute Beispiele vor Augen zu führen aus dem Leben der Heiligen, die Worte Jesu zu überdenken, einen Schritt nach vorne zu tun hin zu einem tieferen Glauben und einem Leben nach der Weisung des Herrn.

Wir tun heute religiöse Geschichtsbetrachtungen oft als wertlos ab. Wir wollen die reine Geschichtswissenschaft, ohne Interpretation. Aber gibt es diese? Jeder Historiker lässt seine Weltsicht in sein Werk mit einfließen. Es gibt keine reine Objektivität. Und anders gesehen, wäre eine vollkommen objektive Geschichtswissenschaft nicht eine tote Wissenschaft? Geschichte ist Leben, das Leben von Menschen mit ihren Wünschen und Sehnsüchten, ihren Freuden und Schmerzen und vor allem auch von Menschen mit ihrem Glauben. Menschen brauchen Orientierung, brauchen Vorbilder. Diese liefert uns die Geschichte. Wir müssen sie entdecken, von ihrem Staub befreien und so neu den Menschen unserer Zeit vor Augen stellen.

Geschichte lebt von diesen Vorbildern, sie lebt von Originalen, von Menschen, über die man auch nach ihrem Tod noch Geschichten erzählt. Durch solche Menschen kommt Leben in die Geschichte. Wo aber alles gleich gemacht wird, wo Menschen dem Profit untergeordnet werden, wo jeder nur noch eine Nummer ist, da geht Geschichte zugrunde, da werden wir zu einem Volk ohne Geschichte, das vor sich hindümpelt im Dämmerlicht der Abgaswolken, die auch die trostlosen Reklametafeln der großen Handelsketten nicht zu erhellen vermögen.

Der Friedenskönig (Sach 9)

Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft. (Sach 9,9a)

Viele Exegeten gehen davon aus, dass der zweite Teil des Buches Sacharja, aus dem dieser Ausspruch stammt, im 4. Jahrhundert v.Chr. entstanden ist, jener Zeit, in der Alexander der Große mit der Eroberung seines Weltreichs die ganze Welt des Nahen Ostens erschüttert und für alle Völker einschneidende Veränderungen gebracht hat. Seine Nachfolger teilten dann in zahlreichen Kriegen das Erbe unter sich auf. Es war eine Zeit der Globalisierung. Noch nie gab es ein Reich, das einen so weiten Raum umspannt und so viele Völker unter einer Herrschaft vereinigt hat. Man ist noch heute fasziniert vom Mut Alexanders des Großen, aber zugleich auch abgeschreckt von der Brutalität seiner Nachfolger. Sicher hat man sich damals bereits viele Geschichten über diese Ereignisse erzählt.

Der Friedenskönig, von dem der Prophet hier spricht und der auf dem Berg Zion in Jerusalem regiert, ist ein Gegenpol zu diesen Herrschern. Doch egal auf welche Zeit und Ereignisse der Spruch des Propheten zurückgeht, es gibt zu allen Zeiten Herrscher, die Krieg über die Erde bringen und Menschen unterdrücken. Jeder Herrscher steht in der Versuchung, sich zu überheben, und sich von der Gier nach immer größerer Macht blenden zu lassen. Somit ist die Sehnsucht nach einem Friedenskönig zu allen Zeiten lebendig. Was sind die Kennzeichen eines solchen Königs?

An erster Stelle steht die Gerechtigkeit. Der Friedenskönig sucht nicht seinen eigenen Vorteil und den seiner Getreuen, er entscheidet nicht blind zugunsten der Reichen, sondern er will Gerechtigkeit für alle. Er prüft auch die Klagen der einfachen Leute und schützt sie vor Ausbeutung und den Übergriffen der Mächtigen. Er hilft, oder besser gesagt er bringt das Heil. Viele Herrscher ließen sich als Heilsbringer verehren, aber brachten großes Unheil über die Völker. Die Sehnsucht der Menschen nach Heil wurde so oft enttäuscht.

Heilig und Heil sind Worte, die uns heute weitgehend fremd geworden sind und die im öffentlichen Wortschatz kaum mehr zu finden sind, sicher auch deshalb, weil sie zu oft missbraucht wurden. Heil ist aber ein wesentliches Produkt christlichen Lebens, das wir aufgrund unserer Berufung zur Heiligkeit mit Gottes Hilfe in der Welt konkret werden lassen sollen. Ein Heiliger ist ein Mensch, der Heil wirkt, in dessen Umgebung Wunden heilen, körperliche und geistige. Der Friedenskönig schafft die Voraussetzungen dafür, dass dieses Heil allen zuteilwerden kann.

Er ist demütig und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin. Ich vernichte die Streitwagen aus Efraim und die Rosse aus Jerusalem, vernichtet wird der Kriegsbogen. Er verkündet für die Völker den Frieden; seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer und vom Eufrat bis an die Enden der Erde. (Sach 9,9b-10)

Der Friedenskönig ist demütig, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass er auf einem Esel reitet. Der Esel ist damals im Nahen Osten ein seit vielen Jahrhunderten bewährtes Lasttier, das sich auch einfache Leute leisten konnten. Im Gegensatz zum Pferd, das als Streitross und Zugtier für die schnellen Streitwagen diente und auf dem die Herrscher sich in allem Stolz präsentieren konnten, ist der Esel ein Bild für Bescheidenheit und Friedfertigkeit. Im Krieg kann der Esel allenfalls das für den Tross nötige transportieren, kommt aber sicher nicht im Kampf zum Einsatz.

Im Reich des Friedenskönigs gibt es keine Streitwagen und Kriegspferde und keine Bogenschützen. All das sind Kennzeichen der expandierenden Großmächte, die mit ihren Heeren einen schnellen Angriffskrieg führen. Doch nicht die Heere, die mit ihren Streitwagen die Erde verwüsten und Angst und Schrecken verbreiten, sind das Leitbild der Zivilisation. Das Reich des Friedenskönigs ist nicht auf Expansion ausgerichtet, sondern auf Stabilisierung im Innern. Der Friede, den er bringt, schafft die Voraussetzung dafür, dass sich eine Kultur des Friedens ausbreiten kann, dass Kunst, Kultur und Religion sich entwickeln können.

Was aber ist das für ein König, der statt auf einem Streitross auf einem Esel reitet? Wie setzt er sein Reich der Gerechtigkeit durch und kann dabei auf Streitwagen und Kriegsbogen vernichten? Welcher König bringt der Welt wirklich den Frieden? Die Heilige Schrift sieht diese Verheißung in Jesus Christus erfüllt, der am Palmsonntag als Friedenskönig auf einem Esel reitend in Jerusalem einzieht, und dem das Volk zujubelt. Jesus Christus als Friedenskönig hat keine andere Waffe als die Liebe Gottes zu seinem Volk. Daher wird er von den Mächtigen auch schnell aus dem Weg geräumt. Doch wir glauben, dass mit ihm das Friedensreich Gottes in dieser Welt angebrochen ist, über das er als der Auferstandene nun herrscht.

Oft wurde die Herrschaft Gottes falsch verstanden. Könige von Gottes Gnaden regierten im Namen Gottes mit der Gewalt des Schwertes. Aus Gottes Friedensreich wurde ein Reich wilder Krieger. Doch wer Gottes Herrschaft auf dieser Welt verteidigen will, muss den Weg Jesu gehen, in aller Demut und Heiligkeit, ohne Kriegswaffen, allein in der Liebe. Er muss dabei aber auch damit rechnen, dass ihn das gleiche Schicksal treffen kann wie Jesus Christus. Aber gerade in der Schwachheit erweist sich Gottes Kraft und wir dürfen darauf vertrauen, dass er selbst es ist, der seiner Liebe zum Sieg verhilft.

Elischa und die Frau aus Schunem

Eines Tages ging Elischa nach Schunem. Dort lebte eine vornehme Frau, die ihn dringend bat, bei ihr zu essen. Seither kehrte er zum Essen bei ihr ein, sooft er vorbeikam. (2Kön 4,8)

Schunem ist eine Stadt in Israel, etwa 30 km südlich des Sees Gennesaret zwischen dem Berg Tabor und Jesreel gelegen. Sie gehört zum Gebiet des Stammes Issachar. Wir wissen nicht, warum der Prophet Elischa hier regelmäßig vorbeikam. Möglicherweise lag der Ort an der wichtigen Handelsstraße, die von der Mittelmeerküste über Megiddo und Hazor weiter nach Damaskus verlief. Es wird berichtet, dass Elischa auch in Damaskus tätig war.

In Schunem lebte eine vornehme Frau, ihren Namen erfahren wir nicht. Ihr war aufgefallen, dass Elischa hier öfter auf der Durchreise ist. Der Prophet war kein Unbekannter und sicher sorgte sein Erscheinen überall für Aufregung und die Menschen kamen zusammen, um ihn zu sehen. Wir wissen um die Gastfreundschaft in orientalischen Ländern. So ist es nahezu eine Selbstverständlichkeit, dass Elischa auf der Reise mit Essen, Trinken und einem Nachtlager rechnen kann.

Die vornehme Frau aber tut noch mehr. Sie bittet ihren Mann, eines der Zimmer im Haus dauerhaft für den Propheten herzurichten. Die Erwähnung eines gemauerten Hauses mit Obergemächern zeigt, dass es sich wirklich um eine reiche Familie handelte, die wahrscheinlich das größte Haus im Ort besaß. Auch Bett, Stuhl, Tisch und Leuchter waren damals Einrichtungsgegenstände, die sich nur reiche Leute leisten konnten.

Als Elischa fragte seinen Diener Gehasi, was man für die Frau tun könne. Dieser sagte: Nun, sie hat keinen Sohn, und ihr Mann ist alt. Da befahl er: Ruf sie herein! Er rief sie, und sie blieb in der Tür stehen. Darauf versicherte ihr Elischa: Im nächsten Jahr um diese Zeit wirst du einen Sohn liebkosen. (2Kön 4,15-16)

Elischa will der Frau für ihre Gastfreundschaft etwas zurückgeben. Die Frau aber lehnt zunächst dankend ab. Sie hat alles, was sie braucht. Neben dem Reichtum ihres Mannes lebt sie zudem inmitten ihrer Verwandten, was ihr zusätzliche Sicherheit verleiht, wenn ihrem Mann einmal etwas zustoßen sollte. Familienbande waren im Alten Orient von größter Bedeutung und mehr wert, als eine Empfehlung beim König.

Doch Gehasi, der Diener Elischas, weiß um den Schwachpunkt der auf den ersten Blick so perfekten Familie. Die Frau ist kinderlos und das ließ sie trotz ihres Reichtums im Ansehen der Menschen sinken. Zudem gab es dadurch keinen Stammhalter, der den Reichtum und das Ansehen der Familie in der nächsten Generation hätte bewahren können.

Elischa gibt der Frau daher die Verheißung, dass sie im nächsten Jahr ein Kind, ja sogar einen Sohn, haben wird. Das ist der größte Lohn, den sie für ihre Gastfreundschaft erhalten kann. Die Frau ist zunächst skeptisch, eine verbreitete Reaktion auf solche Verheißungen, wie wir es bereits bei Abrahams Frau Sarah sehen. Umso größer erscheint dann das Wunder, dass die Frau tatsächlich schwanger wird und zur verheißenen Zeit einen Sohn zur Welt bringt.

Die Geschichte aber geht noch weiter. Als das Kind einige Jahre alt ist, stirbt es plötzlich. Wir können uns den Schmerz der Frau vorstellen und zudem ihre Verwirrung. Denn warum hat Gott ihr ein Kind geschenkt, wenn er es ihr wieder nimmt? Da wäre es besser gewesen, kinderlos zu bleiben, als diesen zusätzlichen Schmerz zu ertragen. Sie eilt zu Elischa, ihrer einzigen Hoffnung. Und der Prophet wirkt ein noch größeres Wunder, er erweckt den toten Sohn wieder zum Leben.

Die Erzählung zeigt uns die wundermächtige Kraft des Propheten Elischa und die Macht Gottes, der sich um sein Volk sorgt und den Schoß eine kinderlosen Frau öffnen, ja sogar Tote zum Leben erwecken kann. Sie zeigt aber auch den Lohn der Gastfreundschaft. Diese ist keine einseitige Zuwendung. Gastfreundschaft bedeutete die Pflicht, dem Gast das Kostbarste, das man bieten konnte, vorzusetzen, ja sogar die letzten Vorräte aufzutischen. Umso größer wird der Lohn für diejenigen sein, die dazu bereit sind.

Von diesem Lohn für die gastfreundliche Aufnahme der Jünger spricht auch Jesus im heutigen Evangelium.

Herzenseigentum (Ex 19)

Nach dem Auszug aus Ägypten und dem triumphalten Durchzug durch das Schilfmeer ist Israel nun in der Wüste unterwegs. Nach drei Monaten Wüstenwanderung sind sie am Horeb, dem Gottesberg, angekommen. Hier wird Gott den Bund, den er einst mit Abraham und den Stammvätern Israels geschlossen hat, erneuern. Er wird dem Volk seine Gebote übermitteln und so den Weg zeigen, wie das Volk seine Erwählung sichtbar werden lassen kann.

Wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein Herzenseigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören. (Ex 19,5-6a)

Herzenseigentum – so nennt Gott sein auserwähltes Volk, das heilige Volk, das Gott in ganz besonderer Weise gehört und für das Gott auch in ganz besonderer Weise sorgt. Den Menschen früherer Zeiten war mehr als uns heute bewusst, was Heiligkeit bedeutet. Sie meint, dass eine Person oder ein Gegenstand dem alltäglichen weltlichen Gebrauch entzogen wird und in ganz besonderer Weise rein gehalten wird für den Dienst an Gott. So galten die Geräte des Tempels heilig, sie durften nur von bestimmten Menschen für bestimmte Handlungen verwendet werden und waren dabei mit höchster Sorgfalt zu behandeln.

Auch Menschen können heilig sein, das bedeutet nicht unbedingt, dass einer in ein Kloster geht oder Priester wird. Hier hören wir, dass Gott ein ganzes Volk erwählt hat, heilig zu sein. Auch die Briefe des Paulus reden alle Gläubigen als Heilige an. Es ist die Berufung und Erwählung von uns allen, solche Heilige zu werden.

Was ist der Sinn der Erwählung, welchen Sinn hat es für das Gottesvolk, sich an all die Gebote zu halten, die zum Bund zwischen Gott und seinem Volk gehören, und dadurch heilig zu sein? Das erwählte, heilige Volk soll ein Segen sein, ein Segen für die Welt. Das war der Sinn der Erwählung des Volkes Israel und das ist der Sinn der Heiligkeit zu allen Zeiten.

Menschen, die ein Segen sind, danach dürstet die Welt. Solche Menschen sind dazu bereit, Entbehrungen auf sich zu nehmen, sich an Regeln und Gebote zu halten. Sie suchen nicht ihren eigenen Vorteil, sondern sind darauf bedacht, dass sie durch ihre Entfaltung nicht das Leben anderer behindern, sondern fördern.

In einer Zeit, in der Gewinn und Wachstum an erster Stelle stehen, brauchen wir solche Menschen mehr denn je. Es ist nicht alles erlaubt, was möglich ist. Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, den eigenen Reichtum so weit wie möglich zu maximieren, egal auf wessen Kosten. Regeln und Gebote sollen sicherstellen, dass alle genug zum Leben haben und den Raum, den sie zum Leben brauchen.

Wir müssen keine Angst haben, dass wir zu kurz kommen, wenn wir nicht mit unseren Ellenbogen uns den Weg erkämpfen. Gott sorgt für die Menschen, die um seinetwillen und um der Menschen willen Verzicht üben. Auch wenn sie in den Augen dieser Welt für dumm gehalten werden, ihr Licht, das Licht Gottes, das sie in sich tragen, leuchtet in der Finsternis.

Herzenseigentum – Gott kümmert sich um sein Volk, Gott ist nahe in allen Nöten und Leiden. Gott nimmt sich seines Volkes an. Das ist der Trost, der in diesen Worten liegt. Gott ist nicht ein Gott, der fern von allem lebt, sondern ein Gott, der mitten in seinem Volk gegenwärtig ist. Diese Gegenwart Gottes zeigt uns die Geschichte des Volkes Israel immer wieder und auch wir, als Gottesvolk des neuen Bundes, können diese Gegenwart Gottes erfahren.

Herr, lass uns ganz dein eigen sein.
Lass uns Heilige sein in dieser Welt,
Menschen, durch die dein Licht leuchtet.
Herr lass uns ganz dein eigen sein.
Lass uns Boten deines Segens sein,
zum Heil der Welt.

Seid heilig!

Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig. (Lev 19,2)

Neben den einzelnen Vorschriften für Priester und Opfer ist die Heiligkeit des gesamten Volkes ein zentrales Anliegen des Buches Levitikus. Der heilige Gott hat Wohnung genommen inmitten seines Volkes Israel. Daher muss auch Israel ein heiliges und priesterliches Volk sein, damit eine kultische Gemeinschaft mit Gott möglich ist. Durch das Opfer werden Verfehlungen getilgt, wodurch eine Wiederherstellung der Heiligkeit möglich ist. Durch die Heiligung des Alltags wird die Lebensordnung, die in der Schöpfungsordnung (Gen 1) grundgelegt ist, bejaht und eingelöst. Aber es ist auch eine Tatsache, dass Störungen der Weltordnung durch menschliches Verschulden zur Realität der Schöpfung gehören, was die Wiederherstellung der Heiligkeit durch bestimmte Opfer oder Rituale stets nötig sein lässt.

Gottes Heiligkeit in der Welt sichtbar zu machen ist zunächst eine Aufforderung an den Menschen. Alle Gläubigen sind dazu berufen, Zeugnis zu geben von dem Gott, an den sie glauben. Mehr als das Zeugnis durch Worte überzeugt das Zeugnis durch das Leben. In einem heiligen, gerechten und liebenden Leben sollen die Gläubigen den Gott der Heiligkeit, des Lebens und der Liebe erfahrbar machen.

Dieses Zeugnis ist den Menschen aber nur möglich, weil Gott ihnen schon immer die Zusage gegeben hat:

Ihr seid heilig, weil ich, der Herr, euer Gott, heilig bin.

Die Würde des Menschen ist in Gott begründet, der den Menschen als sein Ebenbild geschaffen hat. Gott denkt groß vom Menschen, er hat ihm Würde verliehen und schenkt ihm seine Liebe. So hat der Mensch teil an der Heiligkeit Gottes.

Immer wieder muss Gott aber auch den Menschen sagen: Ich bin heilig! Die Menschen neigen immer wieder dazu, sich Gottes zu bemächtigen, in seinem Namen das zu tun, was nicht Gottes Wille ist, Gott in das enge Gebäude ihrer Gedanken einzusperren und an Gottes Heiligkeit zu zweifeln. Gott lässt sich aber nicht von den Menschen missbrauchen. Er wird seine Heiligkeit zeigen, auch gegenüber denen, die seinen Namen missbrauchen.

Bereits das Alte Testament kennt die Forderung der Nächstenliebe, die Jesus in der Bergpredigt formuliert:

Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen. Weise deinen Stammesgenossen zurecht, so wirst du seinetwegen keine Schuld auf dich laden. An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten Lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr. (Lev 19,17-18)

Wer sich lieblos seinem Nächsten gegenüber verhält, der verletzt auch seine Liebespflicht gegenüber Gott und stört die Heiligkeit, in der das Volk leben soll. Wir sehen hier aber deutlich, dass das Liebesgebot nur auf Menschen des eigenen Volkes hin ausgerichtet ist. Erst Jesus wird das Liebesgebot auf alle Menschen ausweiten und sogar noch auf die Feinde. Erst wenn der Mensch – mit Hilfe Gottes – sein Herz zu einer solch grenzenlosen Liebe ausweitet, wird er Gott ähnlich sein, der seine Liebe allen Menschen schenkt.

Jesaja 35 – Heil

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Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, die Zunge des Stummen jauchzt auf. In der Wüste brechen Quellen hervor und Bäche fließen in der Steppe. Der glühende Sand wird zum Teich und das durstige Land zu sprudelnden Quellen. An dem Ort, wo jetzt die Schakale sich lagern, gibt es dann Gras, Schilfrohr und Binsen. (Jes 35,5-7)

Wüste, Trockenheit, verdorrtes Land, in dem nichts mehr wächst. In vielen Gegenden der Erde breiten sich heute die Wüsten aus. Gewaltige Sanddünen begraben Häuser und Äcker unter sich. Was bleibt, ist eine unbewohnbare Landschaft.

Der Prophet Jesaja spricht vom Gegenteil. Wasser bricht in der Wüste hervor. Statt glühendem Sand gibt es idyllische Seen. Es ist ein Bild der Hoffnung. In lebensfeindliche Gegenden kehrt das Leben zurück.

Hoffnung gibt es auch für den Menschen. Auch ein Mensch kann innerlich vertrocknen, wenn die “Kanäle” verstopft sind, seine Verbindung mit der Außenwelt gestört ist. Das muss nicht immer Taubheit und Blindheit sein, gerade die geistigen Probleme sind heute oft schwerwiegender als die körperlichen.

Gott kann auch die verstopften Kanäle im Menschen frei räumen, dass er wieder leben kann. Mit lebhaften Bildern zeigt Jesaja, wie in einen Menschen das Leben wiederkehrt: Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, die Zunge des Stummen jauchzt auf.

In den Evangelien hören wir, wie Jesus das Wirklichkeit werden lässt, was Jesaja in seiner Vision verheißen hat: Taube hören und Stumme sprechen. Gottes Heil wird konkret erfahrbar.

Spüren wir davon auch heute etwas? Wie viele Menschen sehen wir, die innerlich vertrocknet, ausgebrannt sind – Burnout sagen wir dazu. Vielleicht betrifft das auch uns selbst. Wer geht heute auf einen Menschen zu und öffnet sich für ihn, so dass auch der andere seine Ängste überwinden kann und sich öffnen kann? Wer heilt mit zärtlicher Berührung die Verletzungen des Herzens?

Halleluja, halleluja, halleluja.

Das ist das Evangelium der Armen,

die Befreiung der Gefangenen,

das Augenlicht der Blinden,

die Freiheit der Unterdrückten.

Halleluja, halleluja, halleluja.

Der Menschensohn

ist gekommen, um zu dienen,

wer groß sein will,

mache sich zum Diener aller.

Halleluja, halleluja, halleluja.