Alles hat seine Zeit (Koh 3)

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. (Koh 3,1)

Der Weisheitslehrer Kohelet beschäftigt sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Dabei nimmt er althergebrachte Weisheiten kritisch in den Blick, beispielsweise diejenige, dass es frommen Menschen immer gut geht. Die Alten lehren: befolge die Gebote und du wirst ein langes und glückliches Leben haben. Die Beobachtung zeigt uns aber, dass das nicht stimmt. Auch fromme Menschen werden von Schicksalsschlägen getroffen. Waren diese Frommen dann vielleicht nicht fromm genug? Oder müssen wir vielmehr nach neuen Antworten suchen?

Auch die Aussage, dass Reichtum und Bildung die Garantie für ein glückliches Leben sind, hinterfragt Kohelet kritisch. Reichtum ist vergänglich und selbst wer sich alles leisten kann ist noch lange kein glücklicher Mensch. Auch die Beschäftigung mit Bildung und Wissen bereitet oft mehr Kopfzerbrechen, als dass sie dem Menschen Glück und Freude bringt. Wozu dann das alles? Ist letztlich alles sinnlos, “Windhauch”, wie es Kohelet nennt?

Es gibt viel Windhauch in der Welt, aber es gibt auch etwas, das bleibt. Das Leben ist nicht sinnlos, aber die Menschen beschäftigen sich oft mit den falschen Dingen. Es gilt das zu erkennen, was wirklich wichtig ist. Dann wird das Leben ein erfülltes Leben, weil Gott uns aus seiner Fülle das schenken will, was uns zu einem erfüllten Leben fehlt. Nicht durch unablässige Mühe, sondern durch die Offenheit für den schenkenden Gott finden wir zu einem erfüllten Leben.

Wie ist das aber mit den leidvollen und frohen Momenten im Leben? Kohelet gibt uns darauf in diesem wundervollen Gedicht eine Antwort: alles hat seine Zeit, Leid und Freude wechseln einander ab im Leben. Wir können diesem Wechsel des Geschicks nicht entkommen. Fromme und weniger fromme Menschen sind in gleicher Weise an dieses Auf und Ab gebunden. Wir dürfen unser Geschick nicht als Strafe oder Belohnung sehen, sondern es sind ganz natürliche Abläufe, denen wir nicht entkommen können.

Dennoch sind wir nicht blind dem Schicksal ausgeliefert. Unsere Anstrengungen und auch unsere Frömmigkeit haben einen Sinn und zahlen sich aus, aber sie sind eben nicht die einzigen Kräfte, die unser Leben bestimmen. Kohelet möchte uns weg bringen von einem Schwarz-Weiß-Denken und uns die Augen öffnen für die Komplexität des Lebens. Es gibt keine einfachen Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Wir müssen manche Fragen als solche stehen lassen. Aber wir können dennoch ein erfülltes Leben haben, auch wenn wir nicht alle Antworten kennen.

Für alles gibt es eine bestimmte Zeit:

Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben,

eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen der Pflanzen,

eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen,

eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen,

eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen,

eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz;

eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln,

eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,

eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren,

eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen,

eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen,

eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden,

eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen,

eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden. (Koh 3,2-8)

Wichtige und nicht so wichtige Dinge stehen hier relativ unvermittelt nebeneinander. Neben den großen Ereignissen im Leben des Menschen wie Geburt und Tod oder so gravierenden Einschnitten in das Leben wie Krieg und Frieden steht das Steinewerfen und Steinesammeln. Dann gibt es alltägliche oder immer wiederkehrende Ereignisse wie das Pflanzen oder das Umarmen, Klagen und Tanzen. Bei manchen Dingen wissen wir von selbst, dass sie nicht ewig dauern können. Wer gepflanzt hat, muss auf das Wachsen der Pflanzen warten, Menschen, die einander umarmen, müssen diese Umarmung irgendwann wieder lösen.

Bei manchen Dingen fällt es uns schon schwerer, den Wechsel geschehen zu lassen, auch wenn wir genau wissen, dass sie vergänglich sind. Freude würden wir gerne festhalten, aber sie vergeht irgendwann, aber auch das Leid dauert nicht ewig, auch wenn wir mitten im Leid oft nicht daran glauben können, dass es vorüber geht. Aber auch das Leid wird ein Ende haben, ebenso wie der Hass der Liebe weichen kann.

Alles geschieht und oftmals können wir nichts dagegen tun. Manche Menschen haben das Glück, in einer wohlhabenden Gesellschaft zu leben, andere müssen ein Leben in Armut führen. Aber auch das kann sich ändern. Die Corona-Krise hat uns gezeigt, dass das quirlige Leben unserer mobilen Gesellschaft von einen Tag auf den anderen nahezu zum Stillstand kommen kann. Alles hat seine Zeit und momentan scheint die rasende Zeit etwas gebremst worden zu sein.

Ich habe als Bild zu dem Gedicht von Kohelet einen Tropfstein gewählt. So ein Tropfstein wächst in zehn Jahren etwa einen Millimeter. Nach den Maßstäben einer schnelllebigen Zeit könnten wir sagen, er wächst überhaupt nicht, aber wenn wir eine Tropfsteinhöhle besuchen, dann sehen wir, was für imposante Gebilde durch dieses langsame Wachstum im Laufe der Jahrhunderte entstehen können. Das kurze und begrenzte menschliche Leben kann nicht der Maßstab für alles sein. Früher hielten die Menschen sich für den Mittelpunkt der Welt. Heute wissen wir, dass die Zeit menschlichen Lebens nur ein Augenblick in den Jahrmillionen der Weltgeschichte ist, auf einem kleinen Planten irgendwo in den Weiten des Universums.

Dennoch halten wir uns weiterhin für groß und allem anderen überlegen, jagen eitlen Dingen voll Windhauch nach und zerstören mit unserer Gier den Planeten, den Gott uns geschenkt hat und der genug Ressourcen für alle bieten würde, wenn wir nur bereit wären, uns auf das zu beschränken, was wir wirklich nötig haben. Einzelne Wassertropfen können in Jahrhunderten imposante Hallen aus Tropfstein formen. Vielleicht kann dieses Bild uns helfen, uns neu auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist und so zu einem wirklich glücklichen und erfüllten Leben zu finden, ein Leben, das nicht seinen Vorteil dadurch gewinnt, dass es auf Kosten anderer gelebt wird, sondern das sich selbst als Geschenk ansieht und auch für andere ein Geschenk sein will.

Wasser in der Wüste

Mose ließ Israel vom Roten Meer aufbrechen und sie zogen zur Wüste Schur weiter. Drei Tage waren sie in der Wüste unterwegs und fanden kein Wasser. (Ex 15,22)

Israel ist aus Ägypten ausgezogen, am Schilfmeer hat Gott sein Volk vor den Ägyptern gerettet. Der Durchzug durch das Meer und das Siegeslied des Mose bilden eine Zäsur. Ägypten ist fortan Geschichte. Nun fängt etwas Neues an. Israel zieht in sein eigenes Land. Doch bis das Volk dort ankommt, ist es ein weiter Weg. Der gesamte verbleibende Umfang der Fünf Bücher Mose ist diesem Weg gewidmet. Dabei nehmen die Ereignisse auf diesem Weg nur einen geringen Teil ein. Der größte Teil besteht aus dem Bundesschluss am Sinai zwischen Gott und Israel und der damit in Verbindung stehenden Gesetzessammlung, die Gott Israel durch Mose vermittelt.

Als sie nach Mara kamen, konnten sie das Wasser von Mara nicht trinken, weil es bitter war. Deshalb nannte man es Mara. Da murrte das Volk gegen Mose und sagte: Was sollen wir trinken? (Ex 15,23-24)

Wasser ist das, was der Mensch am nötigsten zum Leben braucht. Maximal drei Tage kann der Mensch ohne Wasser überleben. Diese Grenze ist nun erreicht. Bereits nach drei Tagen scheint der so triumphal begonnene Auszug aus Ägypten ein jähes Ende zu nehmen, weil das Volk in der Wüste zu verdursten droht. Kein Wunder, dass die Israeliten murren. Ein Leben als Sklaven wäre dem Tod in der Wüste vorzuziehen gewesen. Sie finden zwar Wasser, aber dieses Wasser ist ungenießbar. Doch Gott findet eine Lösung. Er kann das bittere Wasser süß und genießbar machen. Gott sorgt für sein Volk. Auch in der kargen Wüste sichert er das Überleben. Mehr noch, nach kurzer Zeit finden sie eine Oase, in der es Wasser im Überfluss gibt.

Er schrie zum Herrn und der Herr zeigte ihm ein Stück Holz. Als er es ins Wasser warf, wurde das Wasser süß. Dort gab er dem Volk Gesetz und Rechtsentscheide und dort stellte er es auf die Probe. Er sagte: Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und tust, was in seinen Augen recht ist, wenn du seinen Geboten gehorchst und auf alle seine Gesetze achtest, werde ich dir keine der Krankheiten schicken, die ich den Ägyptern geschickt habe. Denn ich bin der Herr, dein Arzt. Dann kamen sie nach Elim. Dort gab es zwölf Quellen und siebzig Palmen; dort am Wasser schlugen sie ihr Lager auf. (Ex 15,25-27)

Gott ist der Arzt seines Volkes. Sie brauchen keine Wunderheiler und Scharlatane. Gott kümmert sich um sein Volk. Er versteht es, Krankheiten zu heilen. Das wird besonders in Jesus sichtbar. Er zeigt, wie Gott sein Volk heilen möchte. Wir aber sind wie Israel in der Wüste und zweifeln an Gottes Wundern. So hindern wir Gott daran, dass er sich als Arzt und Helfer zeigen kann. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die das Vertrauen in Gott haben, das bereits Mose das Volk gelehrt hat und das Jesus uns gezeigt hat. Die Oase von Elim, wo Gott dem dürstenden Volk Wasser im Überfluss schenkt, kann ein Bild sein, das uns in unserem Leben immer wieder daran glauben lässt, dass die Hoffnung auf Gott nicht vergebens ist.

Wenn ihr fastet … (Mt 6)

Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler! Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber, wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass du fastest, sondern nur dein Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. (Mt 6,16-18)

In der Bergpredigt stellt Jesus die Zehn Gebote auf den Kopf. Diese beginnen ja bekanntlich mit der Bekräftigung, dass Gott, der Retter Israels, der einzige Gott für Israel ist, und dass es die Pflicht des Volkes ist, diese Einzigartigkeit Gottes zu bewahren. Erst danach folgen die Weisungen für den Umgang der Menschen miteinander. Jesus aber beginnt beim Menschen. Er preist die Armen und Unterdrückten selig. Dann zeigt er auf, wie die Menschen miteinander leben sollen, nicht so, dass jeder auf sein Recht pocht, sondern in Gerechtigkeit und Liebe, einer Liebe, die auch im Inneren des Herzens keinen Hass und keine Verachtung anderer zulässt, nicht einmal des schlimmsten Feindes.
Erst dann zeigt Jesus, wie aus diesem Leben gemäß der Liebe auch eine ganz neue Gottesbeziehung erwächst. Erst wenn der Mensch in der alltäglichen Einübung der Liebe seinen Mitmenschen gegenüber Fortschritte macht, kann er etwas von Gott verstehen, der selbst die Liebe ist. So wird der Mensch immer mehr Gott ähnlich und kann so in eine ganz neue Beziehung mit ihm eintreten.
Eine besondere Ausdrucksform der Beziehung des Menschen zu Gott ist das Gebet. Wir können mit Gott kommunizieren, auch wenn wir ihn nicht sehen und seine Stimme nicht hören. Im Gebet findet der Mensch einen ganz besonderen Draht zu Gott, der sich von den alltäglichen Kommunikationsformen unterscheidet. Daher ist Gebet mehr als das Aufsagen von abgelesenen oder auswendig gelernten Formeln. Ein solches Gebet bleibt im Äußerlichen verhaftet. Formeln und Rituale können aber eine Hilfe sein, um zum Zentrum des Betens zu gelangen.

Genauso wie das Beten, sollen auch andere religiöse Ausdrucksformen, insbesondere das Fasten, nicht bei Äußerlichkeiten stehen bleiben. Im Fasten verzichtet der Mensch freiwillig auf gewisse Annehmlichkeiten des Lebens, auf üppige Nahrung, Alkohol, Konsum, Unterhaltung. In unserer Wohlstandsgesellschaft heute gibt es so viele Dinge, auf die wir verzichten können. Verzicht schmerzt auch immer etwas, er fordert eine Willensanstrengung. Aber genau dadurch werden wir reifer. Der Verzicht lässt einen Freiraum entstehen, den Gott füllen kann.
Heute wird vor allem die gesundheitliche Form des Fastens betont. Nachdem die Kirche die Fastenregeln weitgehend abgeschafft hat, entdecken andere das Fasten neu. Es gibt unzählige Ratgeber für die verschiedensten Formen des Fastens. Manche zahlen Unsummen von Geld für professionelle Fastenkuren. Dabei kann Fasten so einfach sein, wenn wir uns einen konkreten Vorsatz nehmen, für welche Zeit wir auf was genau verzichten wollen. Dann brauchen wir nur noch die nötige Willensstärke, das auch durchzuhalten.
Die Kirche will uns mit den 40 Tagen der Österlichen Bußzeit eine Hilfe geben. Es bleibt jedem selbst überlassen, wie er diese Zeit nutzt. Wer Anfänger im Fasten ist, sollte sich nicht zu viel vornehmen, um nicht doch bald enttäuscht aufgeben zu müssen. Es kommt auch auf die Lebensumstände an und auf das konkrete Konsumverhalten des Einzelnen. Wer sich viele Annehmlichkeiten gönnt, findet sicher leicht etwas Überflüssiges, auf das er verzichten kann. Wer aber eh schon relativ enthaltsam lebt, muss sich schon etwas mehr Gedanken darüber machen, worauf er noch verzichten kann.
Allen modernen Fastenratgebern gemeinsam ist der Hinweis darauf, dass Fasten dem Einzelnen gut tut. Vielleicht ist das auch eine Hilfe dafür, das religiöse Fasten neu zu beleben. Es ist keine lästige Pflicht, nichts, das von oben verordnet wird, um die Menschen zu drangsalieren, sondern eine Hilfe, das eigene Leben bewusster und gesünder zu gestalten. Das Fasten tut dem Menschen gut. Es macht aber noch mehr als das. Durch den Verzicht entsteht Raum für Neues und dies kann auch eine ganz neue Gottesbegegnung sein.
Wenn wir all diese positiven Aspekte des Fastens betrachten, so erkennen wir, dass Fasten nichts damit zu tun hat, trübselig und ungewaschen auf der Straße herumzulaufen. Fasten ist kein Jammern über den Verzicht, sondern die Freude darüber, dass wir es schaffen können, uns von unnötigen Bindungen und Zwängen zu befreien. Fasten macht glücklich. Das ist für uns die rechte Motivation, heute damit zu beginnen.

Erfüllung des Gesetzes (Mt 5)

Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. (Mt 5,17)

In der Bergpredigt zeigt uns Matthäus Jesus als den neuen Mose. Wie Mose dem Volk Israel das Gesetz Gottes vermittelt hat, so bringt Gott in Jesus Christus nun allen Menschen sein neues Gesetz. Es ist aber nicht neu, sondern geht aus dem Gesetz des Alten Bundes hervor. Die Gebote, die Gott dem Volk Israel gegeben hat, sind nicht schlecht und Gott hat es sich auch nicht anders überlegt. Vielmehr haben die Menschen Gottes ursprüngliches Gesetz falsch verstanden. Gottes Gebote sind zeitlos, müssen aber immer wieder neu an die sich wandelnden gesellschaftlichen Umstände angepasst werden.

Verhaltensformen, die für ein Nomadenvolk hilfreich waren, passen nicht in die Welt des Römischen Reiches zur Zeit Jesu, genauso wie Verhaltensformen, die sich in einer überwiegend agrarischen Gesellschaft herausgebildet haben, nicht in eine moderne globale Gesellschaft eines fortschrittlichen Industriestaates passen. Das heißt aber nicht, dass die Weisungen aus alter Zeit im falsch sind. Es geht darum, ihren eigentlichen Kern zu entdecken und diesen in die neue Zeit zu übersetzen. Wir müssen zu jeder Zeit neu entdecken, wie wir am besten als Menschen zusammenleben können. Die Welt ist im Wandel. Gewohnte Strukturen lösen sich auf. Jede Generation hat hier neu ihre Wege zu suchen, aber sie braucht die menschlichen Umgangsformen nicht komplett neu zu erfinden. Das Neue geht aus dem Alten hervor und baut auf ihm auf.

So will auch Jesus kein neues Gesetz geben, sondern er will das bestehende Gesetz neu auslegen. Wir können in den Worten Jesu eine Steigerung erkennen. Er stellt die Zehn Gebote regelrecht auf den Kopf. Die Zehn Gebote beginnen mit den Weisungen, wie der Mensch sich Gott gegenüber verhalten soll, und enden mit den Weisungen für das menschliche Zusammenleben. Jesus aber fängt hier mit dem menschlichen Zusammenleben an und kommt dann zu einer neuen Art und Weise der Begegnung mit Gott. Dabei fängt er im mitmenschlichen Bereich mit einer Weisung an, über die allgemeiner Konsens besteht, dass Menschen einander nicht töten sollen. Aber damit ist es nicht genug. Mitmenschlichkeit geht tiefer, sie geht soweit, alle Menschen zu lieben, ja sogar so weit, selbst unsere Feinde zu lieben.

Wenn der Mensch zu einem so tiefen liebevollen Miteinander bereit ist, dann erst ist er bereit für eine ganz neue Begegnung mit Gott, einer Begegnung, die sich nicht auf Äußerlichkeiten wie bestimmte Kulthandlungen oder das Aufsagen bestimmter Gebete beschränkt, sondern die zu einer lebendigen Beziehung zwischen Gott und Mensch führt. Für einen solchen Menschen ist Gott nicht ein höheres Wesen oder eine höhere Macht, sondern Gott ist für ihn ein Vater, dem der Mensch ganz vertrauen kann und der Sorge trägt um das Leben jedes einzelnen.

Diese Nähe Gottes zu den Menschen war auch im Alten Bund nicht fremd. Wir kennen den wunderschönen Psalm 23, der Gott als Hirten zeigt. Viele Worte der Propheten sprechen von der Liebe Gottes zu seinem Volk und zu jedem einzelnen Menschen. Aber sie ging etwas verloren, indem die Menschen sich mehr darauf konzentriert haben, jedes einzelne kleine Gebot zu erfüllen, anstatt Gott als liebenden Vater zu sehen. Auch im Christentum ist diese Entwicklung zu erkennen. Es ging hauptsächlich darum, die Gebote zu halten, Verfehlungen zu beichten und andächtig die Hl. Messe zu besuchen. Aber die Nähe und Liebe Gottes konnten dabei nur wenige erfahren. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sich heute so viele von der Kirche abwenden, weil sie es verpasst hat, die Weisung Gottes rechtzeitig für eine neue Zeit zu übersetzen.

Jeder Mensch ist dazu aufgerufen, der Weisung Jesu auch heute zu folgen, von einem ausdruckslosen Nebeneinander von Menschen, das sich allein an die wichtigsten Regeln des Zusammenlebens hält, zu einem liebevollen Miteinander, das über ein gegenseitiges Annehmen und Verzeihen bis hin zu einer tiefen Liebe selbst zu den Feinden führt. Dann können wir auch Gott neu begegnen und erfahren seine Liebe, mit der er uns stets umsorgt und unser Leben trägt. Warten wir nicht, bis andere den ersten Schritt tun. Gott steht bereit, jeden einzelnen mit seinen liebevollen Armen zu umfangen.

Psalm 95 – Mahnung

Würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören! Verhärtet euer Herz nicht wie in Meriba, wie in der Wüste am Tag von Massa! Dort haben eure Väter mich versucht, sie stellten mich auf die Probe und hatten doch mein Tun gesehen. (Ps 7b-9)

Das Volk Israel hat einen Gott, der es wirklich gut mit ihm meint, aber nicht immer erweist das Volk ihm die nötige Dankbarkeit. Es vergisst seine Gebote, die doch dazu da sind, dass die Menschen in Frieden und Freiheit zusammen leben. Stattdessen treten Macht und Gier in den Vordergrund. Das Volk wendet sich anderen Göttern zu, deren berauschende Kulte interessanter erscheinen als die Schriften des Gottes Israels.

Höre! Immer wieder taucht in der Heiligen Schrift und in der geistlichen Literatur der Aufruf zum Hören auf. Der Gott Israels ist ein Gott, der zu seinem Volk spricht. Wenn die Heiligen Schriften vorgelesen werden, hört das Volk die Worte Gottes. Gott hat mit Mose von Angesicht zu Angesicht gesprochen. Immer wieder erwählt sich Gott Propheten, durch die er zu seinem Volk spricht. Christlicher Glaube sieht in Jesus Christus die höchste Offenbarung Gottes. Gottes Sohn, der zugleich Gottes Wort ist, durch das im Anfang die Welt erschaffen wurde, wird Mensch und redet so in ganz menschlicher Weise zu den Menschen.

Warnendes Beispiel dafür, welche schlimmen Folgen es haben kann, wenn das Volk nicht auf Gott hört, ist die Wüstenwanderung des Volkes Israel, die 40 Jahre gedauert hat, weil das Volk so starrsinnig war, nicht auf Gott vertraut hat und ihn immer wieder auf die Probe gestellt hat. Der Tag von Meriba (Num 20) wurde zu einer Art Wendepunkt des Exodus. Mose sollte dem Volk beweisen, dass Gott ihren Durst mit Wasser aus dem Felsen stillen kann. Doch Mose ließ sich beeinflussen vom Murren des Volkes und zweifelte selbst an dem, was er tat. Zwar spendete Gott das Wasser aus dem Felsen, aber der Zweifel dieses Tages war der Grund dafür, dass Mose nicht in das verheißene Land einziehen durfte.

Immer wieder gerät das Volk in die Versuchung, nicht auf Gott zu vertrauen, seine Wunder zu vergessen. Die Geschichte ist stets eine Mahnung an die gegenwärtige Zeit. Doch von Zeit zu Zeit begeht die Menschheit immer wieder die gleichen Fehler und läuft in die Irre, was meist teuer mit dem Blut vieler Menschen bezahlt werden muss.

Es kommt auf jeden einzelnen an, die Stimme Gottes zu hören. An jedem Morgen wird der Beter daran erinnert. Das bringt der Hl. Benedikt im Prolog seiner Regel sehr anschaulich zum Ausdruck:

Öffnen wir unsere Augen dem göttlichen Licht, und hören wir mit aufgeschrecktem Ohr, wozu uns die Stimme Gottes täglich mahnt und aufruft. “Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!”

Regel des Hl. Benedikt, Prolog

Der Exodus ist nicht nur ein vergangenes Ereignis, er geschieht zu jeder Zeit. Immer ruft Gott Menschen dazu, den Weg mit ihm zu gehen, den Weg in das Land der Verheißung, der Ruhe und des Friedens. Dieses Land ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern überall. Wer Gottes Ruf folgt, muss sich nicht auf Wanderschaft begeben. Es ist der Weg des Menschen in das Innere seiner selbst, der Weg, auf dem der Mensch danach strebt, ganz Gott zu gehören und sich ganz von ihm führen zu lassen, der Weg, auf dem der Mensch lernt, sich vom Irdischen zu lösen und ganz auf Gott zu vertrauen.

Dieser Weg ist an keine Zeit gebunden. Er findet statt im immerwährenden Heute der Gegenwart Gottes. Jeder Tag ist ein guter Tag, diesen Weg zu beginnen, jeder Tag ist ein guter Tag, einen Schritt weiter auf diesem Weg zu gehen. Das Heute dauert so lange, bis das Morgen kommt. Das Morgen, das ist der Tag des eigenen Todes oder der Tag, an dem der Herr wiederkommt in Herrlichkeit. Das Morgen ist jener Tag, von dem keiner weiß, wann er kommt. Darum sollten wir das Heute hochschätzen, denn es bietet uns unbegrenzte Möglichkeiten. Je früher wir anfangen, den Weg mit Gott zu gehen, umso mehr Zeit bleibt uns, diesen Weg einzuüben. Das Heute hält unvorstellbare Chancen für uns bereit. Nutzen wir sie. Jetzt.

Vierzig Jahre war mir dieses Geschlecht zuwider und ich sagte: Sie sind ein Volk, dessen Herz in die Irre geht, sie kennen meine Wege nicht. Darum habe ich in meinem Zorn geschworen: Sie sollen nicht eingehen in meine Ruhe. (Ps 95,10-11)

Das Volk, das Gott sich erwählt hat, ist ihm zuwider geworden, weil es ständig jammert und klagt, anstatt im Vertrauen auf Gott seinen Weg zu gehen. Egal wie viele Wunder Gott auch tut, am nächsten Tag schon sind sie wieder vergessen und das Jammern fängt von neuem an. Das Jammern darüber, wie schlecht es uns geht, durchzieht die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte. Dabei sollten wir dankbar sein für all die Wunder, die Gott uns täglich schenkt, allein schon für das Wunder, dass wir leben. Letztlich ist es unser Jammern, das Gott daran hindert, uns mit seiner Fülle zu beschenken. Wer jammert, versinkt immer tiefer in seinem Elend. Wir denken, wenn wir jammern, dann bekommen wir etwas geschenkt, aber das ist ein großer Trugschluss. Wer bittet, der soll seine Bitten mit Dank und Lobpreis vor Gott bringen, mit dem festen Vertrauen, dass Gott schon längst das für mich bereithält, worum ich ihn bitte. Wer dieses Vertrauen hat, den führt Gott zum Ziel seiner Wünsche und Sehnsüchte, in das Land seiner Ruhe.

Psalm 95 – Lobpreis

Kommt, lasst uns jubeln dem Herrn, jauchzen dem Fels unsres Heils! Lasst uns mit Dank seinem Angesicht nahen, ihm jauchzen mit Liedern! (Ps 95,1-2)

Psalm 95 ist der klassische Psalm zum Invitatorium, der Eröffnung des täglichen Stundengebetes. Die erste Hore des Tages (entweder die Lesehore/Matutin oder die Laudes) beginnt mit dem Ruf: “Herr, öffne meine Lippen. / Damit mein Mund dein Lob verkünde.” Darauf folgt der Psalm 95 (in modernen Formen des Stundengebets auch ein anderer geeigneter Psalm). Für jeden Wochen- und Festtag gibt es eine eigene Antiphon zu diesem Invitatoriumspsalm, die nicht nur am Anfang und Ende des Psalms, sondern auch nach jedem Abschnitt wiederholt wird. Das Invitatorium wird so zu einer Art Weckruf, der dabei hilft, den besonderen liturgischen Charakter des jeweiligen Tages zu verinnerlichen. Die einzelnen Abschnitte, nach denen die Antiphon wiederholt wird, entsprechen den Abschnitten, in die ich die Auslegung des Psalms aufgeteilt habe.

Am Anfang jedes Tages steht das Lob Gottes. Das soll mein erster Gedanke sein, wenn ich aus dem Schlaf erwache. Ich will Gott loben, der mich in der Nacht behütet hat und mir diesen neuen Tag schenkt. Gott ist der Fels unseres Heils. Mit Gott kann ich sicher durch den neuen Tag gehen, auf Gott kann ich mein ganzes Leben bauen, er gibt mir festen Grund. Das will ich mir an jedem Morgen neu bewusst machen, in dieser Zuversicht in den Tag starten und freudig den preisen, der mir diesen Halt und diese Zuversicht verleiht. In einer geistlichen Gemeinschaft beginnt nicht nur jeder einzelne den Tag mit seinem ganz persönlichen Gotteslob, sondern die ganze Gemeinschaft versammelt sich früh am Morgen, um das Lob Gottes zu singen.

Denn ein großer Gott ist der Herr, ein großer König über allen Göttern. In seiner Hand sind die Tiefen der Erde, sein sind die Gipfel der Berge. Sein ist das Meer, das er gemacht hat, das trockene Land, das seine Hände gebildet. (Ps 95,3-5)

Gott ist Herr und König. Diese Tatsache stellt die Heilige Schrift an vielen Stellen heraus, in den Psalmen ganz besonders in der Gruppe der JHWH-Königs-Psalmen (Ps 93-99), zu denen dieser Psalm gehört. Besonders in nachexilischer Zeit, in der die Endredaktion vieler alttestamentlicher Schriften erfolgt ist, fand im Judentum ein entscheidender Wandel statt. Das Volk hatte keinen König mehr. Zudem lebten viele Juden in der Diaspora über die ganze damals bekannte Welt zerstreut. War in früherer Zeit in Israel – ebenso wie in vielen anderen antiken Kulturen auch – das Königtum das Bindeglied zwischen Gott und Volk, kam es nun zu einer Unmittelbarkeit zwischen Gott und Volk, die ohne die Vermittlung eines Königs auskam, mit anderen Worten, Gott selbst nahm die Funktion des Königs ein. Somit ist es nun auch Gott selbst, der dem Volk die Gesetze gibt und für deren Einhaltung Sorge trägt.

Das Königtum Gottes umfasst die ganze Erde, die als Schöpfung Gottes gesehen wird. Tiefen (Unterwelt) und Höhen (Berge und das Gewölbe des Himmels), Meer und Land, die Welt in ihrer Ganzheit, stammt von Gott und gehört Gott. Auch wenn es in anderen Völkern andere Götter geben mag, so steht der Gott Israels über ihnen und ist für sein Volk der einzige Gott. Es gibt in der gesamten Welt keinen Ort, an dem der Gott Israels nicht gegenwärtig wäre. Das macht die Geschichte des Propheten Jona anschaulich und war für die Juden, die fern vom Land Israel lebten, eine entscheidende Tatsache. Die Verehrung des Gottes Israels war nicht an ein Land gebunden, bauchte keinen König als Vermittler und schließlich nicht einmal unbedingt den Tempel, sondern jeder, der zum Volk Israel gehörte, konnte seinen Gott überall in gleicher Weise verehren, denn es ist der Gott, dem die ganze Erde gehört.

Kommt, wir wollen uns niederwerfen, uns vor ihm verneigen, lasst uns niederknien vor dem Herrn, unserem Schöpfer! Denn er ist unser Gott, wir sind das Volk seiner Weide, die Herde, von seiner Hand geführt. (Ps 95,6-7a)

In Gesten wird die Anbetung Gottes in besonderer Weise zum Ausdruck gebracht. Wer Gott lobt, steht nicht nur einfach da und singt ein eintöniges Lied. Das Lob Gottes ist voller Schwung und Rhythmus und zeigt sich in Tanz und anderen Gesten des Körpers. Erhobene Hände sind Zeichen des Lobpreises, Niederknien und Verneigen sind Zeichen besonderer Verehrung und Anbetung. In Israel gebühren sie letztendlich nur dem einen Gott, keinem anderen Gott und auch keinem Menschen, und möge er eine noch so hohe Stellung innehaben.

Das Bild vom Königtum Gottes ist stets auch mit dem Bild des Hirten verbunden. Das Volk Israel war von seinem Ursprung her ein Hirtenvolk und zu allen Zeiten waren Hirten mit ihren Herden präsent. Jeder wusste, was einen guten Hirten ausmacht. Er gibt seiner Herde Schutz, verteidigt sie gegen wilde Tiere und führt sie jeden Tag auf eine saftige Weide, in deren Nähe es auch frisches Wasser gibt, in den kargen Wüstengegenden des Nahen Ostens sicher keine einfache Sache. Aber Gott kann es und das Volk vertraut auf seinen Schutz und darauf, dass Gott der Erde gute Fruchtbarkeit schenkt.

Die Botschaft vom Kreuz (1Kor 2)

Ich kam nicht zu euch, Brüder und Schwestern, um glänzende Reden oder gelehrte Weisheit vorzutragen, sondern um euch das Geheimnis Gottes zu verkünden. Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten. (1Kor 2,1-2)

In der Gemeinde von Korinth herrscht Zwietracht. Einzelne Gruppen haben sich gebildet, die sich darum streiten, welcher Prediger besser ist und wer das größte Maß an Weisheit besitzt. Menschen lieben es, sich zu vergleichen und ihre Gemeinschaften hierarchisch zu strukturieren. Sie identifizieren sich auch gerne mit einer bestimmten Führungspersönlichkeit oder einem prominenten Star. Im Alltag ist das oft harmlos, aber es braucht nicht viel, dass sich die einzelnen Gruppen stärker formieren und ihre Ansichten verabsolutieren. Entweder man gehört dazu oder nicht, es gibt kein dazwischen.

Zudem lassen sich Menschen leicht von guten Rednern beeinflussen. Was in glänzende Worte verpackt ist, kommt besser an als schlichte Tatsachen, und was kompliziert und geheimnisvoll daherkommt wird eher geglaubt als das, was leicht verständlich erscheint. Dabei machen komplizierte Worte noch lange kein Mysterium und überhaupt: Gott ist nicht kompliziert. Hätte er sich sonst einfache Fischer als seine ersten Jünger ausgesucht? Während seines Erdenlebens hat Jesus hauptsächlich mit einfachen Menschen zusammengelebt und sich an sie gerichtet.

Was aber nötig ist, um Gott zu verstehen, ist ein Sinneswandel, ein Umdenken. Wir sind geprägt von so vielen Denkstrukturen, die von unserem Elternhaus, unserer Erziehung oder den Medien beeinflusst sind. Wir merken das oft nicht, weil es für uns selbstverständlich ist. Aber genau darauf kommt es Jesus an, dass wir diese festen Denkstrukturen aufbrechen und lernen, Neues zu denken und dann auch zu tun. Das meint er, wenn er sagt, dass wir werden sollen wie die Kinder. Kinder haben oft weit mehr Phantasie als wir Erwachsenen, weil ihr Denken noch nicht in feste Strukturen gepresst wurde.

So eine feste Denkstruktur haben wir auch von Gott. Ein Gott muss groß sein, erhaben, mächtig. Ein Gott braucht einen Palast, um darin zu wohnen (wir nennen das Tempel), braucht wertvolle Gegenstände in seiner Umgebung und schließlich Menschen, die sich vor ihm in den Staub werfen. Nun ist Gott tatsächlich mächtig und verdient unsere Anbetung und unseren Lobpreis. Aber seine Macht steht eben gerade nicht in Analogie zu den Mächtigen dieser Welt, sondern unterscheidet sich grundlegend von ihnen.

In Israel setze nach dem babylonischen Exil und dem Untergang des weltlichen, davidischen Königtums eine Entwicklung ein, die Gott selbst an die Stelle des Königs setzte. Neben dem positiven Aspekt dieser Entwicklung, dass nun Gott in einer direkten Beziehung zu seinem Volk stand, gab es aber auch den negativen Effekt, dass Gott nun mehr und mehr wie ein orientalischer König dem Volk wieder entzogen wurde. Seine Wohnung war nicht mehr unter dem Volk, sondern im Allerheiligsten des Tempels, das nur der Hohepriester betreten durfte.

Viele alttestamentliche Texte sprechen von der Liebe Gottes zu seinem Volk, von seiner Nähe besonders zu den Schwachen und Unterdrückten, aber sie wurden mehr und mehr nur als Metapher dafür gesehen, dass für die Armen auch mal ein Brotkrumen vom Tisch fällt. Den großen Teil von Gott aber bekamen letztendlich die Priester und Mächtigen ab. Ihnen kam es zu, das einfache und unmündige Volk zu lehren und es mit Gesetzen und Riten im Zaum zu halten, dass es sich ja nicht seiner Unmittelbarkeit zu Gott bewusst wurde.

Nachdem nun die Menschen den Blick auf Gott verstellt hatten, musste Gott handeln und sich selbst den Menschen zeigen. Wie er das gemacht hat, wissen wir. Er kam als ein einfaches Kind in die Welt und hat schließlich die Menschen gelehrt und geheilt, obwohl er dazu von den religiösen Anführern keine Legitimation hatte. Aber Gott braucht keine Legitimation von Menschen, um sich zu offenbaren. Er tut es einfach, weil er es will.

Wir wissen auch, wie Gottes Weg als Mensch geendet hat, am Kreuz. Die Mächtigen konnten es einfach nicht dulden, dass Gott sie umgangen hat, um selbst zu den Menschen zu sprechen und damit die Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch wiederzustellen. Das Kreuz ist schließlich Symbol dafür, dass Gott sich in aller Einfachheit und Direktheit an die Menschen gewandt hat. Gott wollte, dass der Blick auf ihn nicht durch komplizierte Lehren und pompöse Zeremonien verstellt wird.

Doch das mit dem Umdenken der Menschen hat auf Dauer nicht so gut geklappt. Auch Gottes neue Diener sind bald wieder in die alten Denkmuster verfallen. Die Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch wurde schnell wieder begrenzt, eine neue Vielzahl von Geboten hielt die Menschen auf Abstand und Priester traten als Vermittler ein zwischen dem großen Gott und den einfachen Menschen, die letztlich nichts von Gott verstehen können und darum als Laien bezeichnet werden (Paulus bezeichnet am Beginn des Korintherbriefes alle in der Gemeinde als Heilige, welch ein Unterschied).

Wir biegen uns die Worte Jesu gerade, dass sie in das neue Bild passen, aber nur wenige haben den Mut, die Worte Jesu wirklich ernst zu nehmen. Selbst diejenigen, die gegen die Hierarchie in der Kirche aufbegehren und neue Strukturen fordern, sind letztlich in den alten Denkmustern gefangen und wollen lediglich eine Umverteilung der Macht, anstatt zu begreifen, dass der Glaube an Jesus Christus nichts mit Macht zu tun hat, sondern einfach nur Hingabe ist und Liebe.

Paulus wollte seine Gemeinden als Orte, in denen Männer und Frauen, Arme und Reiche, Gebildete und Ungebildete ohne Unterschiede zusammen leben, in denen jeder seine besonderen Gaben zum Aufbau der Gemeinde einbringt, aber derjenige, der mehr kann, sich nicht über den erhebt, der nicht so begabt ist, weil jeder einzelne für die Gemeinde letztlich gleich wichtig ist. Alle Menschen sind unterschiedlich, aber alle Menschen sind gleich wertvoll. Das versucht Paulus in vielen Facetten im langen Korintherbrief auszudrücken.

Das Wort vom Kreuz, das ist die Botschaft einer unendlichen Liebe. Es fällt den Menschen schwer, das wirklich zu verstehen, aber Jesus hat uns zugetraut, dass wir ihn verstehen können. Dazu müssen wir alle vertrauten Denkmuster von Oben und Unten, Macht und Ohnmacht, ja auch alle vertrauten Denkmuster von Religion ablegen. Dann erkennen wir den Kern der Botschaft Jesu, der sagt: Liebt einander, lebt in Eintracht zusammen, wie Schwestern und Brüder, unter euch soll es nicht Herren und Diener geben, Gott allein ist euer Herr, ihr alle seid Geschwister, seid gleich vor Gott, erhebt euch nicht gegeneinander, urteilt nicht übereinander, sondern nehmt einander an und sorgt füreinander.

Paulus wollte eine solche Gemeinschaft der Liebe aufbauen, wollte die Einheit aller in Christus. Dafür ist er durch die halbe Welt gelaufen, weil er die Liebe gespürt hat, die im Kreuz ihren mächtigsten Sieg errungen hat. Die Liebe wird nie vergehen, diese Wahrheit wird Paulus den Korinthern im 13. Kapitel des Briefes im Hohenlied der Liebe auf unvergleichliche Weise vor Augen stellen.

Machtvolles Wort (Hebr 4)

Denn lebendig ist das Wort Gottes, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenken und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens; vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden. (Hebr 4,12-13)

Gottes Wort ist nicht irgendein Wort, es ist nicht wie ein Menschenwort, das gesprochen wird und wieder verhallt. Gottes Wort ist wirksam und machtvoll. Es ist schärfer als jedes Schwert und dringt durch die Grenze von Körper und Geist. Es trifft den Menschen in der Mitte seines Menschseins und fordert ihn zu einer Entscheidung heraus.

Was ist machtvoller auf der Erde zu betrachten als die Kraft eines ausbrechenden Vulkans? Mir schien dies als ansprechendes Beispiel dafür, die Macht des Wortes Gottes zu symbolisieren. Der Mensch kann die Kraft aktiver Vulkane nicht bezwingen. Er kann sich nur rechtzeitig in Sicherheit bringen, sonst verbrennt er in der Glut der heißen Lava. Auch Gottes Wort brennt im Menschen, aber es verbrennt ihn nicht. Vielmehr reinigt es den Menschen, der sich seiner Kraft aussetzt.

Wenn wir in eine Kirche gehen, erfahren wir leider nur wenig von der Kraft des Wortes. Seine Kraft wurde im Laufe der Geschichte zu bändigen versucht. Die verzehrende Glut brennt lieblich und geordnet in den Flämmchen der Altarkerzen. Gottes Wort auf Sparflamme in den immer gleichen Floskeln der Priester und Lektoren. Worte ohne Kraft, die nur selten die Herzen der Menschen treffen.

Wie können wir Gottes Wort seine Kraft zurückgeben? Versuchen wir einmal, alles was wir bisher über Gottes Wort gehört haben, beiseite zu legen, all die frommen Erklärungen, mit denen Gottes Wort schön und handlich verpackt worden ist, dass wir uns daran nicht verbrennen. Nehmen wir die Hülle weg, auch wenn sie noch so fromm und ehrfurchtgebietend erscheinen mag. Legen wir den Kern frei und dann werden wir das Feuer spüren. Je näher wir dem Kern kommen, umso heißer wird es, je mehr Hülle wir entfernen, desto wahrscheinlicher ist es, dass seine Kraft zum Ausbruch kommt.

Feuerzungen waren es, in denen der Heilige Geist an Pfingsten auf die Apostel herabgekommen ist, keine weißen Federn oder flauschige Wölkchen. Nur im Feuer liegt die Kraft, die Herzen zu verändern. Nicht umsonst wird Jesu Herz als Flamme dargestellt – oft leider etwas kitschig, aber es ist eben nicht leicht, eine geistige Wirklichkeit von solcher Kraft bildlich darzustellen. Auch viele Erklärungen bringen uns nicht weiter, da man beim Erklären leicht wieder in die Floskeln verfällt und das Feuer mehr umhüllt als es freizulegen.

Vielleicht hilft es, diesen Vers bewusst als Einstieg der täglichen Bibellektüre voranzustellen. Und Vorsicht: wenn ich die Bibel öffne, hantiere ich mit Feuer. Ihre Worte sind dazu gesprochen und aufgeschrieben, mich zu durchdringen und zu verwandeln. Ich will mich formen lassen von ihrer Kraft.

Mariä Lichtmess

Er, der heiligt, und sie, die geheiligt werden, stammen alle aus Einem; darum schämt er sich nicht, sie Brüder zu nennen und zu sagen: Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde dich preisen; und ferner: Ich will auf ihn mein Vertrauen setzen; und: Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir geschenkt hat. Da nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er in gleicher Weise daran Anteil genommen. (Hebr 2,11-14)

Gott wird Mensch, weil er so seiner Schöpfung am nächsten sein kann. Gott hat die Welt erschaffen und steht von Anfang an mit ihr in einer engen Beziehung. Vielfältig und auf vielerlei Weise hat er seit Anbeginn zu den Menschen gesprochen. Aber all diese Offenbarungen überbietet jene, die Gott in Jesus Christus gebracht hat. Aber wer ist Jesus Christus? Kann Gott sich wirklich so erniedrigen, wie er es in Jesus Christus getan hat, dass er selbst Mensch wird? Dieses Geheimnis ist schon immer vielen unverständlich. Vielleicht haben wir uns nur zu sehr daran gewöhnt, dass es uns so selbstverständlich erscheint. Ein Gott, der Mensch wird, verletzlich, sterblich, schwach in den Augen der Menschen, der sogar am Kreuz stirbt, kann niemals selbstverständlich sein.

Menschen wollen lieber starke Götter, Geistwesen, die sich nicht mit der Welt des Menschlichen verbinden. Auch im Christentum hat es immer wieder Lehren gegeben, die Jesu Menschheit im Vergleich zu seiner Göttlichkeit als vernachlässigbar betrachtet haben oder sein Menschsein gar nur auf einen Scheinleib reduziert haben, der ihm lediglich als Hülle gedient hat. Andererseits gab es auch viele, die das Gottsein Jesu abgelehnt haben im Hinblick auf seine Menschlichkeit. Nur das Geistige zählt, dachten viele. Ihnen standen die Engel näher, die wie das Göttliche reine Lichtwesen waren und nicht mit der Materie vermengt.

Aber christlicher Glaube sieht die Welt anders. Göttliches und Weltliches stehen nicht im Widerspruch zueinander. Gott hat die Welt erschaffen und wohnt selbst in ihr. Alles in der Welt kann auf das Göttliche verweisen. Und weil die Welt Gott so nahe steht, kann er auch selbst in ihr Wohnung nehmen. In Jesus Christus kommt Gott selbst in diese Welt und als Jesus Christus zum Vater zurückkehrt, nimmt er auch sein Menschsein mit und sendet den Heiligen Geist, der unverwüstlich in der Welt Göttliches wirkt.

Die Menschwerdung Gottes ist angemessen, weil Gott die ganze Schöpfung zu sich führen will. Die ganze Geschichte der Menschheit ist nichts anderes als der Ruf Gottes nach dem Menschen. Gott will in inniger Vertrautheit mit dem Menschen leben, ihm seine Nähe und Fürsorge zeigen, ihm alles schenken. Aber der Mensch tut sich so schwer, Gottes Liebe zu erkennen. Er hat andere Ziele, Macht und Reichtum, und mit seiner Gier zerstört der Mensch die schöne und fruchtbare Schöpfung Gottes und er zerstört sich selbst, indem er das Bild Gottes zerstört, das er selbst sein soll.

Gott und Mensch gehören zusammen. Gott will nicht eine unnahbare und erhabene Majestät für den Menschen sein, kein Gott, den Priester im Tempel wegsperren, damit er dem gemeinen Volk ja nicht zu nahe kommt und sie selbst schön ihre Ehrenstellung als Diener Gottes behalten und damit auch ihren Anteil an den reichen Gaben, die das Volk den Göttern spendet. Gott will auch keine rein geistige Wesenheit sein, die nur große Denker ergründen können.

Gott will mitten unter den Menschen sein, er will allen Menschen nahe sein, den Reichen, aber mehr noch den Armen, den Gebildeten, aber mehr noch den Einfältigen, den Starken, aber mehr noch den Schwachen und Unterdrückten. So hat Jesus gelebt. Er ist unter das einfache Volk gegangen, hat sich der Nöte der Menschen angenommen, hat sich nicht von den Mächtigen bestechen lassen, sondern ihnen deutlich die Meinung gesagt, hat sich nicht von den Frommen blenden lassen, sondern ihnen den Spiegel vorgehalten, der zeigt, dass vieles an ihrer Frömmigkeit nur trügerischer Schein ist.

In Jesus ist Gott zum Menschensohn geworden, zum Jedermann, zu einem Menschen wie du und ich, er ist zum Bruder der Menschen geworden, der die Menschheit als geschwisterliche Gemeinschaft formen wollte, die eins ist in der Liebe. Er hat vor denen gewarnt, die ihn als Herrn erheben und so aus der Mitte der Menschen fortnehmen wollten, um ihn selbst in Besitz zu nehmen und sich an ihm zu bereichern.

Alle Menschen sind Gottes Kinder, Gott ist unser Vater und wir alle sind Schwestern und Brüder. In Gott sind alle Menschen untereinander verbunden und zugleich mit der Schöpfung. Es gilt nicht mehr die alte Unterscheidung zwischen Bruder und Fremder, sondern alle sind wir Brüder und Schwestern, weil wir alle von Gott stammen. Warum maßen wir uns an, den einen Fremden oder gar Feind zu nennen, den Gott uns zum Bruder oder zur Schwester gegeben hat?

Am Fest Mariä Lichtmess bringen seine Eltern Jesus in den Tempel, um das vorgeschriebene Reinigungsopfer darzubringen. Wie jeder jüdische Junge wird Jesus durch die Beschneidung in das Volk Gottes aufgenommen. Jesus –  ganz Mensch und doch Gottes Sohn. In seinem Leben wird er uns zeigen, wie Gott den Menschen gewollt hat. Er zeigt uns, wie auch wir leben können, um eine Welt zu gestalten, in der Gottes Bild lebendig wird.