Ich sage in Christus die Wahrheit und lüge nicht und mein Gewissen bezeugt es mir im Heiligen Geist: Ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind. Sie sind Israeliten; damit haben sie die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen, sie haben die Väter und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus, der über allem als Gott steht, er ist gepriesen in Ewigkeit. Amen. (Röm 9,1-5)
In den Kapiteln 9 bis 11 des Römerbriefs befasst sich Paulus ausführlich mit dem Thema der Rettung Israels. Er selbst war Jude und suchte das Heil auf dem Weg der Gesetzesgerechtigkeit, bis Jesus ihm vor Damaskus erschien und seinem Leben eine neue Perspektive gab.
Jesus war Jude, die Apostel waren Juden, die ersten Christen waren Juden. Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen. Es baut auf die Heilige Schrift des Alten Bundes. Jesus Christus sieht sich in seinen Predigten als die Erfüllung der Verheißungen des Alten Bundes. Der Gott Israels ist sein Vater. Von seinem Vater ist er gesandt, dem Volk Israel das Heil zu bringen und von Israel ausgehend der ganzen Welt.
Die Gelehrten des Judentums waren da aber anderer Meinung. Die Mehrheit von ihnen sah in Jesus Christus nicht die Erfüllung der Schriften des Alten Bundes, die sie sehr gut kannten, sondern einen Aufrührer und Gotteslästerer, der es sogar wagte, Gott seinen Vater zu nennen. Sie sahen in ihm eine Gefahr für den jüdischen Glauben und das gesamte jüdische Volk und daher war seine Verurteilung zum Tod für sie die einzige Möglichkeit, den Glauben der Väter zu retten.
Bis heute unterscheiden sich Juden und Christen grundlegend in der Auslegung der Heiligen Schrift. Während die Christen nahezu alle Worte und Ereignisse des Alten Testaments auf Jesus Christus hin deuten, hat für fromme Juden Jesus Christus in ihrem Glauben keinen Platz. Die Erfüllung der Verheißungen steht für sie noch aus und sie warten weiterhin sehnsüchtig auf den Messias.
Paulus muss sich vor den Juden und wahrscheinlich auch vor sich selbst rechtfertigen, warum er plötzlich an Jesus Christus glaubt. Es steht auch der Einwand im Raum: Wenn Jesus Christus wirklich gekommen ist, um Israel zu retten, warum haben dann nur wenige geglaubt? Was ist mit dem großen Rest derer, die weiterhin als Juden leben, ohne den Glauben an Jesus Christus anzunehmen?
Israel ist von Gott in ganz besonderer Weise erwählt. Gott hat einen Bund geschlossen mit Abraham, dem Stammvater Israels, und mit Mose und dem Volk am Berg Sinai. Dieser Bund bleibt bestehen. Die Erwählung Israels bleibt. Für Paulus aber mühen sich die Juden nun vergebens. Sie leben eine Verheißung, die sich bereits erfüllt hat. Das rührt Paulus in seinem Innersten, er ist voller Trauer darüber, dass nicht alle seine Brüder aus dem Judentum den Weg zu Jesus Christus gefunden haben, wie er selbst.
Paulus versucht die Juden zu überzeugen, er betet für sie, aber es ist eine Tatsache bis heute, dass viele Juden nicht an Jesus Christus glauben, sondern weiterhin nach der Tradition ihrer Väter leben, wie sie die Heilige Schrift des Alten Bundes überliefert. Paulus weiß, dass die Erwählung Israels vor Gott weiterhin Bestand hat. So liegt es auch ganz in Gottes Hand, was mit seinem erwählten Volk geschieht.
Fortan aber verbindet Juden und Christen eine wechselvolle Geschichte. Galt zunächst das Christentum als jüdische Sekte und gab es anfangs noch Versuche von jüdischer Seite, den Glauben an Jesus Christus eng mit der Tradition der Väter zu verbinden (etwa indem sie von Heidenchristen die Beschneidung und Einhaltung des jüdischen Gesetzes forderten und sie so weitgehend zu Juden machen wollten), löste sich das Christentum immer mehr vom Judentum ab.
Als das Christentum immer stärker wurde, begannen von christlicher Seite Übergriffe auf die Juden. Sie wurden als Christusmörder diffamiert. Mithilfe staatlicher Seite (die bei den Juden wegen ihrer Eigenschaft als Kreditgeber oft Schulden hatte und damit auch davon profitierte) gab es im Mittelalter immer wieder gewaltsame Ausschreitungen gegen Juden. Ihren Höhepunkt erreichte die Gewalt gegen Juden in der grausamen Vernichtung unzähliger Juden durch die Nationalsozialisten.
Christen haben sich immer wieder an Juden schuldig gemacht. Doch jede Form von Judenhass ist zutiefst unchristlich. Wir müssen den Weg Gottes mit seinem auserwählten Volk respektieren und achten. Wir dürfen wie Paulus für die Juden beten, aber es steht uns nicht zu, über Erwählung und Verwerfung zu urteilen. Gott geht den Weg mit seinem Volk, auch heute.
Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes. Darum bitten wir durch Christus unseren Herrn. (Papst Johannes Paul II.)