Lk 7,36-50 Jesus und die Sünderin

11C_Magdalena

In jener Zeit ging Jesus in das Haus eines Pharisäers, der ihn zum Essen eingeladen hatte, und legte sich zu Tisch. Als nun eine Sünderin, die in der Stadt lebte, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers bei Tisch war, kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl. (Lk 7,36-37)

Jesus ist zum Essen eingeladen bei einem Pharisäer. Wahrscheinlich möchte dieser gerne mit Jesus diskutieren, ihn prüfen, seine Meinung hören über die Auslegung des Gesetzes und darüber, wie der Mensch Gott dienen soll. Lukas berichtet nichts darüber. Es kommt auch nicht zu einem gelehrten Gespräch, sondern der Pharisäer bekommt lebendig die Antwort auf die Fragen, die er im Herzen hat, vorgeführt. Jesus geht es nie darum, gescheite Reden zu führen, an deren Ende dann eine wohlformulierte Absichtserklärung steht oder ein unpersönliches „man sollte tun“. Jesus handelt immer konkret.

Während der Pharisäer sich wohl ein ruhiges Essen mit Jesus erhofft hat, bei dem er selbst der Wortführer ist, kommt nun alles ganz anders, denn plötzlich steht da eine stadtbekannte Sünderin mitten im Zimmer. Wie ist sie da hereingekommen, wer hat sie eingelassen? Hat sie den Türsteher mit ihrem entschiedenen Auftreten überrumpelt? Wir wissen es nicht. Für den heiligen Ambrosius aber wird sie durch ihre entschlossene Suche nach Jesus zum Vorbild für uns alle:

Wo immer du von der Ankunft des Gerechten hörst, sei es im Haus eines Unwürdigen, sei es im Haus eines Pharisäers, eile hin, entreiße ihm, dem Gastgeber zuvorkommend, die Gnade, entreiß ihm das Himmelreich! … Wo immer du Christi Namen hörst, lauf hin! Von wessen Haus immer du vernimmst, es sei Jesus in dessen Inneres eingetreten, beschleunige auch du deine Schritte dorthin! Wenn du von der Weisheit erfährst, wenn du von der Gerechtigkeit erfährst, sie liege in den Gemächern eines Menschen zu Tisch, lauf hin!

Wer diese eindringlichen Worte des Ambrosius hört, der weiß, worum es geht: um die Rettung, um das Heil. Hier schickt es sich nicht zu warten und mit falscher Demut anderen den Vortritt zu lassen, sondern hier soll jeder zusehen, der erste zu sein. Aber keine Angst. Es ist genug Heil für alle da. Jeder, der mit einem solchen Eifer zu Jesus drängt, wird die Erfahrung der lebendig machenden Begegnung mit dem Herrn zuteil.

Sie trat von hinten an Jesus heran. Dabei weinte sie, und ihre Tränen fielen auf seine Füße. Sie trocknete seine Füße mit ihrem Haar, küsste sie und salbte sie mit dem Öl. Als der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, das sah, dachte er: Wenn er wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, von der er sich berühren lässt; er wüsste, dass sie eine Sünderin ist. (Lk 7,38-39)

Die Frau durchbricht die familiäre Atmosphäre des Gastmahls. Ungebeten hat sie sich eingeschlichen, von hinten tritt sie an Jesus heran, kniet zu seinen Füßen und wäscht mit liebender Hingabe die Füße des Herrn mit ihren Tränen, trocknet sie mit ihrem Haar und salbt sie mit wohlriechendem Öl. Die Frau ist eine stadtbekannte Sünderin. Das weiß Jesus und trotzdem oder gerade deshalb lässt er sie gewähren.

Sie zurückzuweisen, hätte bedeutet, sie in ihrem alten Leben zu lassen, das eigentlich kein Leben war. Doch indem er sie gewähren lässt, zeigt er ihr besser als mir tausend Worten, dass er das, was sie geben kann, annimmt. Er will nichts für sich; er nimmt sie, wie sie ist, einfach deshalb, weil sie vor allem ein großes Verlangen hat, sich geliebt zu wissen: wirklich geliebt, endlich wertgeschätzt und respektiert. Er urteilt nicht über sie. Er verurteilt sie nicht. Und so hilft er ihr, zu einem authentischen menschlichen Leben zu finden: Sie fühlt sich wie neu geboren. (Raniero Cantalamessa)

Der Pharisäer sagt nichts dazu, er denkt sich aber seinen Teil. Seine Gedanken gleichen den Gedanken aller gesetzestreuen Menschen zu allen Zeiten: So etwas gehört sich nicht! Wie kann ein Mann Gottes sich so auf eine Sünderin einlassen und sich sogar von ihr berühren lassen? Er stellt Jesu Sendung grundlegend in Frage, denn wenn Jesus ein Prophet wäre, wüsste er, was hier geschieht, er scheint aber nicht zu wissen, dass diese Frau eine Sünderin ist, also kann er kein Prophet sein.

Jesus aber macht deutlich, dass der eigentliche Fehler nicht bei ihm liegt, sondern in der scheinbar logischen Argumentationskette des Pharisäers. Er rückt die Angelegenheit ins rechte Licht und führt dem Pharisäer die schockierende Tatsache vor Augen, dass er mit all seiner Frömmigkeit nicht besser dasteht als diese Frau, im Gegenteil. Die Frau erweist sich durch das, was sie an Jesus tut, als gerecht, der Pharisäer aber bleibt in seinen Sünden, weil er nicht bereit ist, die Vergebung als Geschenk Gottes anzunehmen.

Da wandte sich Jesus an ihn und sagte: Simon, ich möchte dir etwas sagen. Er erwiderte: Sprich, Meister! Jesus sagte: Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner; der eine war ihm fünfhundert Denare schuldig, der andere fünfzig. Als sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, erließ er sie beiden. Wer von ihnen wird ihn nun mehr lieben? Simon antwortete: Ich nehme an, der, dem er mehr erlassen hat. Jesus sagte zu ihm: Du hast Recht. (Lk 7,40-43)

Jesus wendet sich nun dem Pharisäer zu, der bisher geschwiegen hat. Jesus ergreift das Wort, liebevoll spricht er seinen Gastgeber mit Namen an: Simon. Jesus erzählt ihm ein Gleichnis. Zwei Männer haben Schulden, einer sagen wir mal etwa fünftausend Euro, der andere fünfzigtausend. Beiden wird die Schuld erlassen. Der Pharisäer versteht. Jeder ist schuldig vor Gott, kein Mensch kann sagen, dass er vor Gott gerecht ist. Das wussten auch die Pharisäer. Bei all ihrer Gesetzestreue war ihnen doch klar, dass sie es nie schaffen werden, alle Gebote vollkommen zu erfüllen.

Auch wenn nun also der Pharisäer Simon von seiner Gerechtigkeit überzeugt ist, so weiß er doch um seine eigenen Sünden und Fehler. Auch er steht bei Gott in der Schuld und hofft darauf, dass Gott ihm diese erlassen wird. Aber er hat dabei eine andere Methode als die Frau. Simon denkt vielleicht, dass er, wenn vor Gott hintritt, zumindest all das aufzählen kann, was er an guten Werken des Gesetzes getan hat, dann, so mag er sich sagen, wird Gott vielleicht über die kleinen Fehler hinwegsehen. Aber Gott will nicht mit uns handeln, er will uns beschenken.

Eben darum, weil es keine würdige Wiedervergeltung gibt, die wir Gott leisten könnten – was wollten wir denn als Entgelt bieten für das Leiden seiner Menschheit, die er angenommen hat? Was für seine Geißelung? Was für sein Kreuz, seinen Tod, sein Begräbnis? – so wehe mir, wenn ich nicht liebe! … So lasst uns denn statt der Schuld Liebe, statt der Zahlung Hingebung, statt des Geldes Dank erstatten! Denn am meisten liebt, wem am meisten geschenkt wird. (Ambrosius)

Jesus will Simon nicht brüskieren. Er wendet sich seinem Gastgeber zuerst zu, richtet zuerst das Wort an ihn, dann erst wendet er sich der Frau zu. Simon hat wohl verstanden, was Jesus ihm sagen will, aber er ist in sich selbst gefangen. Er kann nicht wie die Frau authentisch vor Jesus hintreten. Wir wissen nicht, wie es mit Simon weiter gegangen ist. Es bleibt offen, ob er Jesu Worte annehmen konnte, oder nicht.

Dann wandte er sich der Frau zu und sagte zu Simon: Siehst du diese Frau? Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser zum Waschen der Füße gegeben; sie aber hat ihre Tränen über meinen Füßen vergossen und sie mit ihrem Haar abgetrocknet. Du hast mir zur Begrüßung keinen Kuss gegeben; sie aber hat mir, seit ich hier bin, unaufhörlich die Füße geküsst. Du hast mir nicht das Haar mit Öl gesalbt; sie aber hat mir mit ihrem wohlriechenden Öl die Füße gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie mir so viel Liebe gezeigt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe. Dann sagte er zu ihr: Deine Sünden sind dir vergeben. Da dachten die anderen Gäste: Wer ist das, dass er sogar Sünden vergibt? Er aber sagte zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden! (Lk 7,44-50)

In den erklärenden Ausführungen Jesu tritt eine gewisse Diskrepanz zu dem Gleichnis zutage. Während im Gleichnis beiden Schuldnern einfach so die Schuld erlassen wird und die größere Liebe des einen die Folge davon ist, dass ihm mehr erlassen wurde, so spricht Jesus nun davon, dass der Sünderin mehr vergeben wird, weil sie mehr Liebe gezeigt hat. Jesus macht so das mit Worten unerklärbare Ineinander von Gottes Vergebung und unserem Tun deutlich. Gott will uns beschenken, ohne dass wir dafür etwas tun müssen, aber doch bedarf es unserer Disposition dazu, beschenkt zu werden.

Es ist stets die Liebe, an der wir gemessen werden. Wer selbst nicht liebt, kann auch Gottes Liebe nicht annehmen. Nicht, weil Gottes Liebe zu schwach wäre, sondern weil wir ihr mit unserer Lieblosigkeit eine Grenze setzen. Gottes Vergebung an uns kann nur dann konkret werden, wenn wir selbst bereit sind, zu vergeben. Jesus zeigt, wie Gott will, dass wir vor ihn hintreten: mit einem demütigen und liebenden Herzen. Nicht das Hervorheben unserer eigenen Gerechtigkeit lässt Gott unsere Sünden vergeben, sondern das Tun der Liebe. Unsere ganze Gerechtigkeit kann die Schwere unserer Schuld nicht aufwiegen, nur die Liebe hat Gewicht.

Wir können leicht aus der Distanz sagen, warum ist der Pharisäer so blind. Es wäre doch nur ein kleiner Schritt gewesen, dann wäre ihm die gleiche Fülle des Geschenkes zuteil geworden wie der Frau. Er hätte nur ehrlichen Herzens zu Jesus sagen brauchen: Ich verstehe, was du sagst, auch ich bin ein Sünder, Herr, verzeih mir. Stattdessen aber schweigt er. Er bringt diese Worte einfach nicht über seine Lippen.

Aber auch wir sind oft in uns gefangen. Wir ertappen uns immer wieder dabei, wie wir über andere urteilen, wie wir Hass in unserem Herzen aufsteigen lassen anstatt Liebe. Es fällt uns schwer, über unseren Schatten zu springen, wir wollen das Gesicht wahren. Auch wir treten Jesus lieber als vornehmer Hausherr gegenüber, der seinen Gast zwar freundlich, aber doch distanziert empfängt, anstatt wie die Frau uns nicht zu schade zu sein, vor Jesus niederzuknien und den Schmutz von seinen Füßen mit den Haaren abzuwischen.