Der Herr ist mein Hirte.
Das Bild vom Hirten und den Schafen ist die zentrale Perspektive im ersten Teil des Psalms 23. Es ist ein Bild, das viele fasziniert und diesen Psalm zu einem der beliebtesten und bekanntesten Psalmen gemacht hat. Es fällt nicht schwer, ihn auswendig zu lernen und man meditiert ihn gerne. Das Bild vom Hirten, der seine Schafe auf die schönste Weide führt, das der Psalm dann weiter expliziert, ist angenehm zu betrachten.
Wenn der Psalm aber vor unseren Augen das Bild von Schafen und Hirt lebendig werden lässt, so tut er das nicht, um den Menschen als ein Tier ohne freien Willen darzustellen. Der freie Wille ist es ja, der den Menschen vom Tier unterscheidet. Der freie Wille allein ist aber keine Garantie, den richtigen Weg zu finden. Der Mensch braucht einen Führer, der ihn seine Würde erkennen lässt und ihm den Weg zeigt, gemäß dieser Würde zu leben.
Die freie Selbstbestimmung ist ein Mittel, sie ist nicht selbst das Ziel. Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, wir müssen uns nach ihr richten. Um dies zu können, müssen wir ihrer ansichtig werden. Sie muss uns gezeigt werden. Der Hirt – das ist der, der den Weg zeigt. Aber es ist auch der, der es erst möglich macht, diesen Weg zu gehen.
(Robert Spaemann)
Hirte sein, das war im Orient auch das Bild für einen guten Herrscher. In der alten lateinischen Fassung beginnt der Psalm 23 mit den Worten: Dominus regit me. Regere bedeutet führen, leiten, aber auch herrschen und ist verwandt mit rex – König. Der Regent soll einer sein, der die Menschen führt. Doch es gab in der Geschichte auch grausige Führer, die ganze Nationen in die Irre geführt haben.
Jesus Christus bezeichnet sich im Johannesevangelium (Joh 10) selbst guten Hirten und stellt sich damit in die Tradition der Gottesbilder des Alten Testaments, die Gott als Hirten seines Volkes sehen. Besonders deutlich wird dies bei den Propheten Ezechiel (Ez 34-37) und Sacharia (Sach 13) und eben im Psalm 23. Das Bild von Jesus als guten Hirten erfreut sich seit frühesten Zeiten größter Beliebtheit und ist vielleicht eine der ältesten Darstellungen, die sich Christen von Jesus gemacht haben. In den Katakomben von Rom finden wir über 140 Mal dieses Bild. Der vierte Sonntag der Osterzeit wird traditionell als “Sonntag vom Guten Hirten” gefeiert. Auf meiner Seite zu diesem Sonntag finden Sie mehr Gedanken zu diesem Thema.
Mir wird nichts fehlen.
Das Leben des Menschen ist geprägt von seiner Bedürftigkeit. Das Schaf ist zufrieden mit einer grünen Wiese und wir werden im nächsten Vers sehen, dass der gute Hirte die Schafe zur saftigsten aller Weiden führen wird. Als Menschen aber müssen wir für unseren Lebensunterhalt sorgen, müssen normalerweise irgendeiner Tätigkeit nachgehen. So kann Gottes Sorge um uns nicht bedeuten, dass wir es uns einfach gemütlich machen können und nichts tun brauchen.
Der Weg, den Gott führt, mündet in die Fülle. Wir sind nicht in der Fülle. Sorge, Fehlen, Mangel, Bedürftigkeit ist unsere Grundverfassung. Nichts von dem, was unser Wesen braucht, ist mit unserem Dasein schon mitgegeben. … Wir bleiben endliche und also bedürftige Wesen in alle Ewigkeit. Aber der Weg Gottes führt immer tiefer hinein in die Erfüllung. Mir wird nichts fehlen. Die fundamentale Bedürftigkeit hängt zusammen mit unserer Zeitlichkeit.
(Robert Spaemann)
Doch auch wenn wir in unserem Leben uns um die täglichen Bedürfnisse mühen müssen und unsere tiefste Sehnsucht noch unerfüllt bleibt, können wir schon jetzt Gottes Sorge erfahren. Wer im Vertrauen auf Gott lebt – und das bedeutet ja Glaube – der weiß darum, dass keine existentielle Not – und mag sie noch so groß sein – ihm letztlich schaden kann. Gott führt immer einen Weg aus der Finsternis zum Licht, aus der Trockenheit ans Wasser, aus der Wüste in fruchtbares Land.
Gott führt uns, das bedeutet, dass wir uns führen lassen, dass wir bereit sind, selbst dorthin zu gehen, wohin er uns weist. Gott wird uns aber auch nie zurück lassen, wenn wir schwach sind und nicht weiter können. Wenn es nötig ist, wird Gott uns tragen, wie ein verwundetes und schwaches Schaf. Gerade dieses Bild ist es ja, das die Menschen so fasziniert.
Ich kann das nicht machen. Ich kann nur immer wieder das loslassen, was mich von Gott fern hält, und lernen, mich in Gottes Arme fallen zu lassen. Vertrauen lernen auf Gott, indem ich die Bilder dieses Psalms meditiere.
Im Psalm 23 wird die Integrität, die ungeschmälerte Fülle heilen Lebens erfahren, die Gott aus freien Stücken, „um seines Namens willen“ (V.3) schenkt. Wenn ich die objektiv beschreibende, form- und wortanalytische „Behandlung“ des Textes als Sache hinter mir, diesen Psalm vor mich hinsage, ihn in mich hinein „murmle“, mich von den Worten in ihr Sagen ziehen lasse, fühle ich das tiefe Vertrauen, die Vertrautheit, ja Wärme in der Beziehung eines Menschen des Alten Bundes zu Gott.“
(Fridolin Stier)
Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen.
Sich von Gott führen lassen, das bedeutet auch zu lernen, das Schöne im Leben zu sehen und jeden Tag als Geschenk zu betrachten. Wie wir die Welt sehen, hängt auch von den Augen ab, mit denen wir auf sie blicken.
Für den Glaubenden geht jeder Augenblick der Welt und des eigenen Lebens als ein ihm zugedachtes Ereignis neu aus der Hand Gottes hervor. Er findet darin eine immer neue Möglichkeit, den Willen des Vaters zu tun und darin sein Wesen zu verwirklichen. So findet er von Augenblick zu Augenblick die Speise, von der Christus spricht, frisches Grün und frisches Wasser.
(Robert Spaemann)
Wenn auch unsere Sehnsucht hier nie ganz zu ihrer Erfüllung gelangt – was wäre das für ein Leben, wenn man alles erreicht hätte – so wissen wir doch, dass einst all unsere tiefsten Wünsche erfüllt werden, wenn wir Gott sehen dürfen – ein Anblick, an dem wir uns in alle Ewigkeit nicht satt sehen können. Und doch will Gott uns auch schon jetzt die Geheimnisse seiner Schönheit offenbaren. Die Welt als seine Schöpfung gibt Zeugnis davon, wenn wir lernen, sie recht zu betrachten.
Wir dürfen wissen, dass Gott weiß, was wir bedürfen, ehe wir darum bitten. Das gibt unserem Gebet größte Zuversicht und fröhliche Gewissheit.
(Dietrich Bonhoeffer)
Um seines Namens Willen, weil wir seine Kinder sind und Gott keine anderen Absichten hat, als uns das Heil zu schenken, wir er für uns sorgen, jeden Tag neu.