Und die Stimme aus dem Himmel, die ich gehört hatte, sprach noch einmal zu mir und sagte: Geh, nimm das Buch, das der Engel, der auf dem Meer und auf dem Land steht, geöffnet in der Hand hält! Und ich ging zu dem Engel und bat ihn, mir das kleine Buch zu geben. Er sagte zu mir: Nimm und iss es! In deinem Magen wird es bitter sein, in deinem Mund aber süß wie Honig. Da nahm ich das kleine Buch aus der Hand des Engels und aß es. In meinem Mund war es süß wie Honig. Als ich es aber gegessen hatte, wurde mein Magen bitter. Und sie sagten zu mir: Du musst noch einmal weissagen über viele Völker und Nationen mit ihren Sprachen und Königen. (Offb 10,8-11)
Das Bild von der Buchrolle, die der Prophet essen soll, finden wir bereits beim Propheten Ezechiel (Ez 2,8-3,7). Der Prophet hört nicht nur die Worte Gottes, die er verkünden soll, er isst sie, nimmt sie ganz in sich auf, verdaut sie, so dass sie ganz Teil seiner selbst werden. Ruminatio ist ein Wort für die Betrachtung der Heiligen Schrift, das an dieses Bild erinnert. Wörtlich bedeutet dies Widerkäuen. Durch ständige Betrachtung nehmen wir die Worte der Heiligen Schrift in uns auf, wir sagen sie uns entweder laut (wie es die Väter getan haben) oder im Geist immer wieder vor, bis sie ein Bestandteil unserer selbst werden, bis diese Worte in uns leben und unser Leben verändern.
Die Bibel können wir nicht lesen wie jedes andere Buch. Sie ist kein Roman, der unserer Unterhaltung dient, sie ist kein Sachbuch, das unser Wissen erweitert. Die Heilige Schrift, das sind Worte des Lebens. Ihre Worte sollen unser Leben bestimmen. Wir verstehen die Schrift nur, wenn wir sie auch leben. Es kann sein, dass ihre Worte bei jedem Lesen eine neue Bedeutung für uns gewinnen. Es kann sein, dass eine Stelle für uns lange unverständlich bleibt und wir dann plötzlich ihren Sinn verstehen.
Nehmen wir täglich die Heilige Schrift zur Hand und vergessen wir nicht, beim Lesen auch zu verweilen. Es ist gut, einen Überblick über die Schrift zu haben, aber ihren tieferen Sinn erschließt sie uns erst, wenn wir in die Tiefe gehen. In einem Vers, ja sogar einem einzelnen Wort kann so viel Sinn stecken, dass wir ganze Bücher damit füllen könnten.
Johannes nimmt wie der Prophet Ezechiel das Buch aus der Hand des Engels. Er versteht nun den Sinn der Weltgeschichte, er versteht Gottes Plan mit der Menschheit. Aber dieses Verstehen ist nicht so wie beispielsweise das Verstehen in der Mathematik. Gottes Pläne sind keine einfachen Gleichungen, Gottes Geschichte mit den Menschen ist keine klare Abfolge. Es gehört auch zum Verständnis der Schrift, dass uns klar wird, dass ihre Deutung offen bleibt. Nur mit Bildern kann Johannes das vermitteln, was er gesehen hat. Es sind Bilder, die offen sind für Deutung und nicht Bilder, die wie ein Film zeigen, was geschieht.
Ich denke wir haben im Zeitalter von Fernsehen und anderer Medien die Phantasie verlernt. Wir bekommen ständig Bilder geliefert, die genau zeigen, was irgendwo auf der Welt geschehen ist. Früher waren die Menschen auf das angewiesen, was sie selbst gesehen haben und andere ihnen erzählt haben. Aber wenn wir einmal aufmerksam hinsehen, müssen wir verstehen, dass auch das Fernsehen nie ein Abbild der Wirklichkeit liefert, sondern immer nur eine Deutung. Ein zweiminütiger Nachrichtenbeitrag kann niemals ein Geschehen objektiv widergeben, ja selbst die Auswahl der Bilder ist schon Deutung.
Menschen wollen Fakten und bekommen doch allzu oft Fake News oder zumindest nur die halbe Wahrheit. Wenn wir ein Geschehen in der Welt wirklich verstehen wollen, müssen wir uns viele verschiedene Informationen dazu holen. Dann werden sich uns vielfältige Aspekte und Hintergründe auftun. Freilich, das ist mühsam und kein Mensch hat die Zeit und Fähigkeit, alle Informationen genau zu prüfen, aber es lohnt sich, das eine oder andere näher zu prüfen und vor allem stets vorsichtig mit dem umzugehen, was an uns herangetragen wird.
Der Seher Johannes bekommt Informationen aus erster Hand. Mit dem Bild vom Engel und der Schriftrolle will er zeigen, wie wichtig seine Worte sind und dass es für seine Leserinnen und Leser lebensentscheidend ist, auf sie zu hören. Es lohnt sich, die Bilder der Offenbarung immer wieder zu betrachten und so nach und nach ihren Sinn zu verstehen. Sie wollen uns keine Angst machen, aber sie wollen uns deutlich machen, wie wichtig es ist, sich zu entscheiden, auf welcher Seite man steht. Christentum ist keine Religion der Bequemlichkeit. Wer ernsthaft Christ sein will, steht im Spannungsfeld der Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse. Er ist berufen, Zeugnis abzulegen für Jesus Christus, den Herrn des Lebens.