Vexilla regis prodeunt,
Fulget crucis mysterium,
Quo carne carnis conditor
Suspensus est patibulo.
Der König siegt, sein Banner glänzt,
geheimnisvoll erstrahlt das Kreuz,
an dessen Balken ausgestreckt
im Fleisch des Fleisches Schöpfer hängt.
So beginnt ein alter Hymnus auf das Kreuz Christi. Er zeigt uns das Kreuz als Banner oder Standarte, die dem Kriegsheer vorangetragen wird, es leuchtet als geheimnisvolles Zeichen auf, wie einst dem Kaiser Konstantin vor der Schlacht an der Milvischen Brücke im Jahr 312. Kurz vor dieser Schlacht hatte Konstatin die Vision des Kreuzes, und sein Sieg, der ihn zum alleinigen Herrscher des Römischen Reiches machte, wird als Beginn der offiziellen Anerkennung des Christentums im Römischen Reich angesehen. Nur wenige Jahrzehnte später, im Jahr 380 unter Kaiser Theodosius, wurde dann die einst verfolgte Religion selbst zur Staatsreligion, die sich gegen Andersgläubige und interne Abweichler wandte.
Etwa 200 Jahre später verfasst Venantius Fortunatus (um 540 – um 600) diesen Hymnus auf das Kreuz. Die Zeit, in der er lebt, unterscheidet sich in Vielem von der Zeit des Konstantin und Theodosius, zumindest im Westen Europas. Dort hatte die Völkerwanderung das Römische Reich von der Landkarte hinweggefegt. Weitgehend noch unzivilisierte barbarische Stämme beginnen damit, dort neue Reiche zu gründen. Erobern und Erobertwerden wechseln einander ab, bis sich langsam die Ordnung Europas herausbildet, auf deren Grundstrukturen die Gesellschaften Westeuropas bis heute aufbauen.
Venantius Fortunatus hat noch die antike römische Bildung genossen. Er gilt als der letzte römische Dichter der Spätantike und zugleich als erster Dichter des Mittelalters. Der Ostteil des Reiches mit der Hautstadt Konstantinopel/Byzanz bestand nach dem Fall Roms noch etwa tausend Jahre weiter. Kaiser Justinian, während dessen Regierungszeit Venantius Fortunatus aufgewachsen ist, verteidigte Ostrom machtvoll gegen viele Angreifer, wenngleich sein großer Traum von der Eroberung der verlorenen westlichen Gebiete nicht Wirklichkeit wurde. Einzig Ravenna mit seinem Umland blieb den Kaisern noch als Stützpunkt im Westen und bildete einen Vorposten der Zivilisation inmitten der barbarischen Wirren.
Dort in Ravenna hat Venantius Fortunatus den ersten Teil seines Lebens verbracht. Im Jahr 565 brach er zu einer Pilgerreise nach Tours, zum Grab des heiligen Martin auf. In Gallien hat die Römische Kultur den Untergang der Römischen Herrschaft noch lange überdauert. In den Römerstädten Galliens blieb eine Römische Restbevölkerung zurück, zu der auch viele römische Adlige und Gebildete zählten. Ihr gelang es, was sicher nicht einfach war, sich mit den neuen Herrschern zu arrangieren. Auch christlicher Glaube und christliche Tradition blieben so erhalten. Einige der neuen Herrscher und mit ihnen deren Untergebene hatten ja bereits das Christentum angenommen, andere waren noch Heiden und bekehrten sich später. Aber es war ein langer Prozess, in dem das Christentum allmählich heidnisches Denken überlagerte.
Bei seiner Reise durch das merowingische Gallien begegnete Venantius Fortunatus einer anderen großen Persönlichkeit, der heiligen Radegund (um 520-587), die ich ebenfalls hier kurz vorstellen möchte. Radegund war die Tochter des Thüringerkönigs Berthachar. Nachdem der Frankenkönig Chlothar I. im Jahr 531 Thüringen erobert hatte, nahm er Radegund mit in sein Reich. In Athies an der Somme bekam Radegund eine christliche Erziehung. Gegen ihren Willen nahm Chlothar sie um das Jahr 540 zur Frau, um seinen Herrschaftsanspruch über Thüringen zu sichern. Es ist anzunehmen, dass Radegund im Alltagsleben ihren Ehemann nur selten begegnete. Die Ehe blieb Kinderlos. Radegund vertiefte sich immer mehr in den christlichen Glauben, verzichtete auf die Annehmlichkeiten einer Königin, lebte wie eine Nonne und übte sich in Werken der Barmherzigkeit.
Als Chlothar im Jahr 555 ihren Bruder ermorden ließ, floh Radegund nach Noyon. Ihr gelang es schließlich, dass ihre Ehe von der Kirche als ungültig angesehen wurde. So stand ihr der Weg frei, endlich das Leben einer Nonne zu führen. Im Jahr 558 gründete sie bei Portier ein Frauenkloster nach der Regel des hl. Caesarius von Arles und setze ihre Adoptivtochter Agnes zur ersten Äbtissin ein. Sie selbst lebte dort in aller Einfachheit und Demut und starb dort am 13. August 587 im Ruf der Heiligkeit.
Im Jahr 567 kam Venantius Fortunatus nach Portier und begegnete dort Radegund. Es entwickelte sich eine innige geistige Freundschaft. Venantius Fortunatus unterstütze das Kloster und schrieb dort Hymnen und Gedichte. Einen Höhepunkt stellte sicher das Eintreffen einer Reliquie des Hl. Kreuzes Christi dar, ein Geschenk des byzantinischen Kaisers Justin II. Anlässlich der feierlichen Überführung dieser Kreuzreliquie in das nun Sainte-Croix benannte Kloster am 19. November 569 erklang der von Venantius Fortunatus komponierte Hymnus zum ersten Mal.
Geschichte wird lebendig, ein gebildeter Römer, einer der letzten Repräsentanten einer vergangenen Epoche, eine Königstochter aus dem Haus germanischer Eroberer, eine der ersten Frauen aus dieser neuen Welt, über die wir gesicherte Überlieferungen besitzen, treffen sich in einem Kloster in Frankreich. Sie erhalten ein Geschenk des byzantinischen Kaisers, des damals wohl mächtigsten Mannes der Welt. Wir können heute noch die Lebensbeschreibung Radegunds lesen, die Venantius Fortunatus geschrieben hat, wir singen heute noch den Hymnus, der damals zum ersten Mal erklungen ist.
Uns Heutigen mag dieser Hymnus etwas zu pompös erscheinen. Militärische Standarten gehören weitgehend der Vergangenheit an, aber zur damaligen Zeit waren sie allgegenwärtig. Ständig zogen feindliche Heere durch das Land und der Sieger von heute wurde leicht zum Verlierer von morgen und wer andere mit dem Schwert tötete, musste auf der Hut sein, dass das Schwert nicht ihn selbst traf. Und doch gibt es ein Zeichen, das das Alte mit dem Neuen verbindet, das die ganze damals bekannte Welt umspannt, die letzten Reste des untergegangenen Römischen Reiches mit den neuen Herrschern und diese wiederum mit dem fernen Herrscher in Byzanz. Das Kreuz, das Zeichen des Sieges, das beständig sicher steht, auch wenn der Erdkreis sich dreht, Reiche entstehen und zerfallen, Menschen kommen und gehen.
Das Kreuz, an dem unser Schöpfer hing. Venantius Fortunatus dichtet eindrucksvoll: an dem im Fleisch des Fleisches Schöpfer hing, ausgestreckt an einem Balken. Der Schöpfer lässt sich von seinem Geschöpf kreuzigen. Wie groß ist die Brutalität der Menschen und wie groß ist die Barmherzigkeit des Schöpfers. Er antwortet dem Geschöpf nicht mit Vernichtung und Strafe, sondern mit grenzenlosem Verzeihen und mit der Macht der Auferstehung, mit der er alle in sein Reich führen will.
Wie groß ist die Brutalität der Menschen bis heute und diese wurde leider auch von Menschen ausgeübt, die mit dem Banner des Kreuzes vorangingen. Denken wir nur daran, wie viel Leid die Kreuzzüge, die dieses Banner missbraucht haben, gebracht haben, so viel Gewalt und nicht zuletzt die Trennung der Kirche in Ost und West. Können wir uns heute, wenn wir ehrlich sind, überhaupt noch unter das Banner des Kreuzes stellen?
Haben wir Mut, auch heute zum Kreuz zu stehen. Vertrauen wir seiner Kraft. Denken wir aber auch stets daran, dass es ein Zeichen der Einheit und des Friedens ist. Gemeinsam sollen wir hinter diesem Banner ziehen, Menschen aus Ost und West, Nord und Süd, Arme und Reiche, Starke und Schwache. Das Kreuz will alle Völker und Rassen vereinen. Wenn wir so dem Kreuz seine Ehre wiedergeben, dürfen wir es auch heute noch voll Stolz und Vertrauen tragen.
O crux, ave, spes unica,
Hoc passionis tempore,
Piis adauge gratiam
Reisque dona veniam.
O heil’ges Kreuz, sei uns gegrüßt,
du einz’ge Hoffnung dieser Welt.
Den Treuen schenke neue Kraft,
den Sündern tilge alle Schuld.