Das Buch Jesus Sirach erteilt praktische Lebensregeln, wie ein Leben in Gerechtigkeit und Gottesfurcht gelingen kann. Das Ziel eines solchen Lebens ist es, Weisheit zu erlangen. Doch wenn man diese Lebensregeln näher betrachtet, erkennt man, dass viele von ihnen für eine ganz bestimmte Zeit geschrieben sind. Jede Zeit aber hat ihre eigenen Herausforderungen. Umso mehr erstaunt der folgende Abschnitt, der die Verantwortung des Menschen bei der Suche nach Weisheit unterstreicht. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, gemäß der Weisheit Gottes zu leben und jeder Mensch kann den Weg dazu finden, sein Leben selbst zu gestalten.
Er hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen. (Sir 15,14)
Dieser Satz des Jesus Sirach klingt modern. Die Willensfreiheit ist eine der Grundeigenschaften des Menschen. Er wird nicht allein von Trieben gesteuert, sondern hat die Möglichkeit, diese zu kontrollieren. Das setzt aber voraus, dass ein Mensch bereit ist, an sich zu arbeiten, und das ist oft schwer. Aber wer ein erfülltes Leben sucht, für den ist das unerlässlich. Willensstärke ist lernbar, weil sie jedem Menschen in die Wiege gelegt wurde.
Gott gab den Menschen seine Gebote und Vorschriften. Wenn du willst, kannst du das Gebot halten; Gottes Willen zu tun ist Treue. (Sir 15,15)
Wenn du willst kannst du es. Was will ich wirklich? Will ich mich nur treiben lassen von Unterhaltung und Konsum, oder will ich mein Leben gestalten und mit Sinn erfüllen? Jeder Mensch hat eine Aufgabe in der Welt, für die er allein Verantwortung trägt. Aber diese Aufgabe steht nicht plötzlich da, sondern wir müssen sie suchen. Und es gibt viele Versuchungen, die uns von unserer Aufgabe abbringen wollen.
Sein Leben zu gestalten, setzt Treue und Beständigkeit voraus, Treue auch ganz besonders in den kleinen Dingen. Wir wissen oft intuitiv, was zu tun wäre, entscheiden uns aber dagegen, weil wir zu bequem sind oder anderes verlockender erscheint, aber es gilt:
Gott hat uns seine Gebote zu wissen gegeben, und wir haben keine Ausflucht, als wüssten wir Gottes Willen nicht. Gott lässt uns nicht in unlösbaren Konflikten leben. Er macht unser Leben nicht zu ethischen Tragödien, sondern er gibt uns seinen Willen zu wissen. (Dietrich Bonhoeffer)
Feuer und Wasser sind vor dich hingestellt; streck deine Hände aus nach dem, was dir gefällt. Der Mensch hat Leben und Tod vor sich; was er begehrt, wird ihm zuteil. (Sir 15,16-17)
Feuer oder Wasser, Tod oder Leben, was wähle ich? Ich komme um eine Wahl nicht herum. Wer nicht wählt, der entscheidet sich stets für das weniger Gute. Das Gute zu erlangen, setzt stets unsere Suche und Entscheidung voraus. Wir tragen Verantwortung für unser Leben und damit auch für diese Welt, denn es liegt in meiner Verantwortung, ob sich das Lebensfreundliche und Gute in der Welt vermehrt oder der Tod. Der Tod ist die Folge einer fehlenden Entscheidung für das Gute. Wer nicht für das Gute eintritt, gibt den Übeltätern Raum, jenen, die andere ausbeuten, unsere Welt zerstören und letztlich Tod und Verderben über andere bringen.
In seiner Verantwortung, das Gute zu erkennen und es auch zu tun, steht der Mensch ständig in der Spannung zwischen Gehorsam und Freiheit.
In der Verantwortung realisiert sich beides, Gehorsam und Freiheit. Sie trägt diese Spannung in sich. Jede Verselbständigung des einen gegen das andere wäre das Ende der Verantwortung. … Der Gehorsam zeigt dem Menschen, dass er sich sagen lassen muss, was gut ist und was Gott von ihm fordert, die Freiheit lässt den Menschen das Gute selbst schaffen. (Dietrich Bonhoeffer)
Dabei kommt es nicht darauf an, Großes zu vollbringen. In den kleinen Dingen des Alltags bringt sich unsere Liebe zum Leben zum Ausdruck.
Nicht die Welt aus den Angeln zu heben, sondern am gegebenen Ort das sachlich – im Blick auf die Wirklichkeit – Notwendige zu tun und dieses wirklich zu tun, kann die Aufgabe sein. (Dietrich Bonhoeffer)
Wir sollen uns stets bewusst sein, dass alles, was wir tun – und sei es noch so klein und verborgen -, eine Bedeutung hat für die ganze Welt. Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Alles, was wir tun, dient entweder dem Tod oder dem Leben, einen Weg dazwischen gibt es nicht. Wir müssen uns entscheiden und wenn wir es nicht tun, haben wir auch bereits eine Entscheidung getroffen.