Der Stylit

Völker schlugen über ihm zusammen,

die er küren durfte und verdammen;

und erratend, dass er sich verlor,

klomm er aus dem Volksgeruch mit klammen

Händen einen Säulenschaft empor,

 

der noch immer stieg und nichts mehr hob,

und begann, allein auf seiner Fläche,

ganz von vorne seine eigne Schwäche

zu vergleichen mit des Herren Lob;

 

und da war kein Ende: er verglich;

und der Andre wurde immer größer.

Und die Hirten, Ackerbauer, Flößer

sahn ihn klein und außer sich

 

immer mit dem ganzen Himmel reden,

eingeregnet manchmal, manchmal licht;

und sein Heulen stürzte sich auf jeden,

so als heulte er ihm ins Gesicht.

Doch er sah seit Jahren nicht,

 

wie der Menge Drängen und Verlauf

unten unaufhörlich sich ergänzte,

und das Blanke an den Fürsten glänzte

lange nicht so hoch hinauf.

 

Aber wenn er oben, fast verdammt

und von ihrem Widerstand zerschunden,

einsam mit verzweifeltem Geschreie

schüttelte die täglichen Dämonen:

fielen langsam auf die erste Reihe

schwer und ungeschickt aus seinen Wunden

große Würmer in die offnen Kronen

und vermehrten sich im Samt.

 

Rainer Maria Rilke

 

„Erratend, dass er sich verlor“, der Heilige will sich nicht verzehren im Getriebe der Welt, nicht alles gewinnen, sich selbst aber verlieren. Er will ganz sein vor Gott, will sich selbst durch und durch erkennen – will sich von Gott durch und durch erkennen lassen. Deshalb steigt er auf die Säule, um unter Gottes Himmel ganz mit Gott allein zu sein.

Er vergleicht „seine eigne Schwäche … mit der Herren Lob“. So schutzlos Gott ausgeliefert, erkennt der Mensch vor allem seine eigene Schwäche. Was ist der Mensch, dass er Gott loben kann, den erhabenen, vor dem die Chöre der Engel stehen. Was ist dagegen das Loblied einer Menschenstimme? Muss der Mensch verstummen – klein werden, ja vergehen vor dem Höchsten? 

„Mit dem ganzen Himmel reden“, bis einem von Gott nichts mehr trennt, bis alle Schutzmauern, die wir uns errichten, eingerissen sind. Frei jeder äußeren Mauer fällt auch irgendwann die innere Mauer. Schmerzhaft, so dass es den Menschen fast vernichtet. Doch danach ist das Leben anders, ganz neu, in einer vorher ungeahnten Nähe zu Gott, wenn die Dämonen, die beständig diesen Sieg des Menschen über die eigene Schwäche verhindern wollen, besiegt sind. Dann erkennt der Mensch die Größe, die Gott ihm geschenkt hat – Bild Gottes sein zu dürfen.

Doch dann bleibt mehr als Geschwüre und Würmer, wie Rilke schreibt. Dann kann ein solcher Mensch zum Segen werden für andere, durch die Gnaden, die Gott ihm verleiht. Doch nicht für die schaulustige Menge, die wohl nur die Würmer sieht, sondern für die Gottsuchenden, denen er Rat und Weisung gibt und Heilung für die kranke Seele.